Das megalithische
Phänomen und segmentäre Gesellschaften Jonas Blum |
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1 Segmentäre Gesellschaften:
Definitionen 2 Segmentäre Gesellschaften und
das megalithische Phänomen |
Das megalithische Phänomen beschränkt sich in keiner Weise auf das
Neolithikum, die frühe Bronzezeit oder auf Westeuropa, wenngleich in der
archäologischen Forschung gerne dieser Bezugsrahmen in das Zentrum des
Interesses gerückt wird. Gleichartige Erscheinungen sind bis in die Neuzeit
in Afrika, Indien oder auf pazifischen Archipelen bekannt. Die grossen räumlichen und zeitlichen Divergenzen können zum
Anlass genommen werden, die Bauwerke entweder unabhängig und voneinander
getrennt zu betrachten oder sie als ein zeitübergreifendes und globales
Zeichen zu verstehen, welches möglicherweise stets aus ähnlichen Ideen und
Überzeugungen hervorgeht. Hinweis darauf, dass die Megalithik als
gesellschaftsübergreifender Ausdruck verstanden werden kann, der sich primär
unter den Bedingungen spezifischer Organisationsformen konstituiert, geben
die Betrachtungen von Alain Gallay und Alain
Testart. Auf Grundlage des von Testart vorgelegten Klassifikationsschemas
gelingt Gallay die Freilegung von solchen
gemeinsamen Strukturen in Form sozialer Ordnungen. Er zeigt auf, dass sich
die bekannten historischen und ethnologischen Beispiele megalithischer
Gruppierungen innerhalb Testarts Gliederungsvorschlag «eléments
de classification des sociétés»
ausschliesslich in die Klasse «Monde II»
einordnen lassen. Der Brückenschlag zwischen Gesellschaftsformen und Megalithik offenbart eine weitere augenfällige, aber eine
weder von Testart noch von Gallay hervorgehobene
Korrelation: Die Segmentierung als spezifische Organisationsform tritt bei
megalithischen Gesellschaften gehäuft in Erscheinung. Warum gerade diese eine
Form der sozialen Gliederung das Errichten megalithischer Bauten zu
prädestinieren scheint, wird – gestützt auf die Ausführungen von Testart und Gallay – in vorliegender Betrachtung unter Zuhilfenahme
von Jan Assmanns kulturellem Gedächtnis versucht darzulegen. 1 Segmentäre Gesellschaften: DefinitionenDie unterschiedlichen Definitionen und Verwendungen des Begriffes der
«segmentären Gesellschaft» im sozialanthropologischen und archäologischen
Sinn führt zu einer uneinheitlichen Auffassung seiner Zuordnung zu sozialen
Organisationsformen. Es ist daher notwendig, eingangs die einzelnen dem
Terminus zugeschriebenen Charakteristika darzulegen und erst dann mögliche
Verbindungen zu megalithischen Gesellschaften zu diskutieren. 1.1 Neoevolutionistischer und prozessualistischer AnsatzDer Begriff der «segmentären Gesellschaft» entstammt der
sozialanthropologischen Disziplin und wurde zu Beginn des 20. Jh. stark von
der Denkschule des amerikanischen Neoevolutionsimus
geprägt. Er ist dabei eng mit dem zeitgenössischen morphologisch-evolutiven
Klassifikationssystem von E. Service verbunden. Das Schema fusst auf der Überzeugung, dass soziale Gefüge in ihrer
Entwicklung zwingend einen Prozess der Komplexifizierung
ihrer Organisation durchlaufen müssen, wobei es sich im Wesentlichen auf die
innere Integration, Komplexität und Hierarchisierung der jeweiligen
Gesellschaften stützt. Daraus wird die Einteilung in die Gruppierungen Horde,
Stamm, Häuptlingstum und Staat abgeleitet (Boulestin 2016b: 4-5; Gallay
2006: 21-23; Renfrew/Bahn 2008: 178-181; Sahlins
1961: 323-32; Testart 2005: 11-17). Die Segmentierung ist eng mit Verwandtschaftsbeziehungen (lignage) verknüpft und wird der Klasse der
Stammesgesellschaften (tribes) zugeschrieben.
Definiert wird das Ordnungssystem als sozialer Körper, welcher aus
zahlreichen, grundsätzlich gleichgestellten, autonomen Gruppen besteht («unspecialized multifamily
groups, each the structural duplicate of the other» (Sahlins 1961: 325)), welche sich periodisch
zusammenfinden, um sich zu einer grösseren Einheit zusammenzuschliessen. Als Kollektiv bilden sie dabei in
gewisser Weise ein grösseres gesellschaftliches Ganzes.
Sahlins verweist zurecht darauf, dass die
Segmentierung nicht auf eine einzige Unterteilungsmöglichkeit beschränkt ist
– eine einzelne Gruppe kann sich durchaus wiederum aus mehreren Teilen
zusammensetzen, wobei er die kleinste Einheit als «primäres Segment»
bezeichnet. Auch betrachtet er den «Stamm» – in diesem Fall das grössere Ganze – nicht als eigentliches politisches
Gefüge, sondern viel mehr als eine «soziokulturelle Entität» (Sahlins 1961: 325), die zusammengehalten wird durch
«inter-segmentäre Institutionen» (Sahlins 1961:
325) wie Heiratssysteme oder militärische und religiöse Gruppierungen, welche
die primären Segmente kraft ihrer Abhängigkeitsverhältnisse miteinander
verschränken. Verbunden wird die Organisationsform auch mit der Aufteilung eines
grösseren, gemeinschaftlichen Territoriums, welches
analog zu der Gesellschaftsstruktur in kleinere Elemente aufgegliedert werden
kann (Abb. 1) (Jeunesse 2016a: 5-7; Darvill 2008:
s. v. segmentary society;
Gallay 2006: 21-23; Renfrew/Bahn 2008: 178-181; Sahlins 1961: 322-325). Abbildung 1: Mögliche Organisation einer segmentären Gesellschaft und
ihre analoge territoriale Aufteilung (Sahlins 1961:
329). Marshall Sahlins ergänzt die
definitorischen Grundsätze und postuliert, dass ein auf Abstammung
basierendes Gesellschaftssystem eine segmentäre Struktur nur in
Konkurrenzsituationen etabliert. Er geht bspw. bei primären Segmenten
neolithischer Gruppierungen davon aus, dass diese gegen innen ein konstantes,
autonomes, selbstversorgendes System verkörpern, welches die eigenen
Ressourcen kontrolliert. Nur gegen aussen agieren
diese als Kollektiv, um gegen rivalisierende Gruppen die gemeinschaftlichen
politischen und territorialen Interessen durchzusetzen. So sind es die äusseren Faktoren, welche über den «Grad der politischen
Konsolidierung» (Sahlins 1961: 326) entscheiden. Sahlins erläutert, dass das Eindringen
stammesgesellschaftlicher Gruppierungen in bereits besetzte Territorien häufig
von der Herausbildung segmentärer Strukturen begleitet werde und reduziert
die Organisationsform dadurch die auf eine kurzlebige Zweckgemeinschaft.
Denn: Ohne Konkurrenz und Wettbewerb tendierten die primären Segmente dazu,
aus dem Verbund herauszubrechen und in ein völlig autonomes Handeln
überzugehen (Sahlins 1961: 322-326, 342). Die prozessualistische Strömung griff diese
Auffassung auf und überführte sie in den archäologischen Kontext. Die
grundlegende Definition wurde aus der Sozialanthropologie übernommen und war
noch immer fest mit der evolutionistischen Denkweise verbunden. Wie C.
Renfrew und P. Bahn ausführen, wird die «Komplexität» archäologischer
Gesellschaften in besonderem Mass anhand von
Siedlungsmustern und der Grösse von politischen
Einheiten, aber auch aufgrund der Art der Wirtschaftsweise bestimmt. Als
segmentär werden in diesem Kontext alle frühen bäuerlichen (neolithischen)
Gesellschaften eingestuft und als «multi-community societies»
bezeichnet, deren soziale Organisation auf Verwandtschaftssystemen fusst (Jeunesse 2016b: 5-7; Renfrew/Bahn 2008: 179; Sahlins 1961: 325-326). 1.2 Ansatz nach Alain TestartTestart formuliert mit seinem Werk «eléments
de classification des sociétés»
in den frühen 2000er-Jahren einen Gegenvorschlag zu den neoevolutionistischen
Klassifikationssystemen und distanziert sich dabei explizit von den
Definitionskriterien der (nie definierten) gesellschaftlichen Integration,
der inneren Komplexität oder generell von allen Kriterien der morphologischen
Erscheinungsformen. In gleichem Masse kritisiert er die Verwendung des
Begriffes der «Evolution» im amerikanisch-sozialanthropologischen Verständnis
als «lediglich eine hierarchische Klassifikation» (Testart 2005: 16), da
diese – anders als in der Disziplin der Biologie – als ein zielgerichteter
Prozess beschrieben wird, welchem ein Komplexifizierungsprozess
immanent ist. Am Grundsatz der Klassifikation anhand der Untersuchung
gesellschaftlicher Strukturen hält er aber fest (Testart 1961: 12-17). Testart stützt seine Einteilung der Gesellschaften, unabhängig von
vermeintlichen Entwicklungsstufen, auf die Sphären Wirtschaft, Politik und
soziale Strukturierung im technischen Sinn (Einteilung einer Gesellschaft in
bspw. Verwandtschafts- und Altersklassensysteme oder Clans) und definiert im
Wesentlichen die drei Gliederungseinheiten Monde I-III, welche im Folgenden
noch einmal aufgegriffen werden (vgl. Abb. 3). Er hält fest, dass es nicht
möglich ist, generelle Kriterien für soziale Organisationsformen zu
bestimmen. Diese sind – wie bspw. die Segmentierung einer Gesellschaft auf
der Basis einer verwandtschaftlichen Abstammung – den jeweiligen politischen
und wirtschaftlichen Merkmalen unterzuordnen. In seinem Verständnis ist also
«die Segmentierung einer Gesellschaft nicht von Belang, sofern diese keine
politische oder wirtschaftliche Dimension aufweist» (Testart 2005: 23)
(Testart 2005: 22-23). In seinen Ausführungen verortet Testart die Segmentierung innerhalb
der von ihm in die Monde II eingegliederten Semi-Staaten, deren Hauptformen
die «démocratie primitive» und die «organisation lignagère»
sind. Die beiden hinsichtlich der Segmentierung relevantesten
Definitionskriterien der Semi-Staaten sind die limitierte Teilbarkeit
sozialer Körper und deren innere Organisation: Der Staat (Monde III) als
Einheit beispielsweise bildet eine einzige Souveränität, dessen
Untergliederung in einzelne Gruppierungen genauso ausgeschlossen ist wie der
Zusammenschluss zu einer grösseren Einheit. Die
Semi-Staaten besitzen mit ihrer inneren politischen Organisation, bspw. in
Form von Verwandtschaftssystemen, Strukturen, innerhalb derer sowohl eine
Unterteilung als auch ein Zusammenschluss auf mehreren Ebenen möglich ist. In
welche Elemente, Segmente oder Teilbereiche der Körper zerfällt, steht in
Abhängigkeit mit der Beschaffenheit selbiger Struktur. Dabei nimmt der Faktor
der Limitation einen bedeutenden Platz ein: Gesellschaftliche
Zusammenschlüsse aufgrund zufälliger Umstände – wie gegenseitige Interessen,
freundschaftliche oder nachbarschaftliche Beziehungen – lassen sich infolge
der fehlenden Struktur potenziell unlimitiert bis auf das Individuum teilen.
Die eigentlichen Segmente sind dabei nicht konsistent. Innerhalb der Semi-Staaten sind verschiedene verwandtschaftlich
organisierte Gefüge fassbar, die sich potenziell in kleinere Gruppierungen
unterteilen und in grösseren Gemeinschaften
vereinen lassen, ohne dass das Individuum dabei als kleinste selbstständig
handelnde Einheit im Sinne der Souveränität aufgefasst werden kann. Die
Segmentierung sensu stricto
projiziert Testart aber auf die Subgruppe sociétés
lignagères. Er betont dies deshalb, weil der
aus der Biologie entlehnte Begriff der «Segmentierung» zwingend eine
Unterteilung in homologe Einheiten darstellt. Dies setzt voraus, dass
Unterteilungsbrüche in der genealogischen Abfolge entlang ganz spezifischer
Linien erfolgen und dadurch eine eingeschränkte Möglichkeit der Teilbarkeit
aufweisen (Abb. 2). Diese spezifische Art der Fusion und Fission setzen eine
unilineare Organisationsform voraus, die ausschliesslich
durch Verwandtschaftssysteme strukturiert ist: «Concerning
what is labelled a lineage society [...] this is not a society constituted by lineages – which is found almost
everywhere [...]. This is a society entirely organised by lineages and by lineages exclusively» (Testart
2014: 333), (Boulestin 2016: 86; Testart 2005: 88-89, 106-111, 130-131; Testart 2014: 333). Abbildung 2: Modell des verwandtschaftlichen Aufbaus der organisation lignagère (links)
und ihre möglichen Unterteilungsbrüche in homologe Einheiten (rechts)
(Testart 2005: 88-89). 2 Segmentäre Gesellschaften und das megalithische PhänomenUm das gehäufte Erscheinen segmentärer Ordnungsstrukturen bei
megalithischen Gesellschaften im ethnologischen Vergleich über die
augenfällige Korrelation hinaus in einen möglichen kausalen Zusammenhang zu
stellen und potenzielle Verbindungen offenzulegen, wird auf die Arbeit von
Alain Gallay zurückgegriffen (Gallay
2006). Gallay weist jene Gruppierungen innerhalb
von Testarts Klassifikationsschema aus, welche megalithische Bauten errichten
und verknüpft dadurch das Megalithphänomen mit
gesellschaftlichen Strukturen. Nie explizit herausgearbeitet wurde aber –
weder bei Testart noch bei Gallay – das Verhältnis
zwischen der gesellschaftlichen Segmentierung jedweder Art und der Megalithik. Daran knüpfen die vorliegenden Ausführungen
an. Bei der Auseinandersetzung mit segmentären Gesellschaften erweist
sich der Begriff selbst schnell als problematisch; er ist wie bereits
angedeutet, in einer nicht gänzlich befriedigenden Schärfe zu umreissen und bedarf einer breiteren Umschreibung.
Vorliegend ruht der Fokus auf der Segmentierung als soziale Ordnungsstruktur
im technischen Sinn selbst. Die strenge begriffliche Auffassung geht in
Anlehnung an Sahlins in die Deutung über, es handle
sich um gegen innen selbstständig handelnde Gruppen mit innerer Struktur, die
sich als Teil eines grösseren Gefüges
identifizieren. Wenngleich die Definition aus dem politischen und
wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis im Verständnis von Testart gelöst
wird, wird an seinem Klassifikationsschema festgehalten. 2.1 Segmentäre Gesellschaften im Klassifikationsschema nach Testart und GallayZiel der Betrachtung ist es nicht, die Segmentierung als Prinzip der
Ordnung einzelnen Klassen absolut zuzuordnen, sondern viel mehr jenes,
darzulegen, bei welchen megalitherrichtenden
Gruppierungen dieses fassbar ist. Zunächst gilt es, das Augenmerk auf die
Schnittmenge jener Gesellschaften zu richten, welche beide Kriterien in sich
vereinen. Unter Anwendung des Klassifikationsschemas von A. Testart erbringt A.
Gallay mit den sociétés
semi-étatiques und sociétés
à richesses ostentatoires
den Nachweis zweier gesellschaftlicher Gefüge, welche megalithische Bauten
errichten und eine gewisse Affinität zu der segmentären Sozialordnung
aufweisen. Sie beide werden Testarts Monde II zugewiesen (Abb. 3). Gruppe 1: Organisations lignagères
(sociétés lignagères) Als Subgruppe der sociétés semi-étatiques sind mit den organisations
lignagères soziale Konstrukte fassbar, die im
Verständnis von Gallay mit den sociétés
lignagères nach Testart gleichzusetzen sind (vgl.
Abb. 3). Letztere werden wie ausgeführt, explizit als segmentäre
Gesellschaften angesprochen (Kap. 1.2). Es ist darauf hinzuweisen, dass diese
beiden Begriffe nicht synonym verwendet werden können: Gallay
spricht von Gesellschaften, deren Struktur auf gemeinsamer Abstammung fusst und unterteilbar ist, nicht aber durch sie
organisiert sein muss. Auch der soziale Körper muss anders als bei der
Definition Testarts keinesfalls in homologe Gruppen zerfallen. Durch diese
terminologische Ungenauigkeit schafft Gallay einen
grundsätzlich nicht unproblematischen Unschärfebereich zwischen
Verwandtschaftssystemen und -beziehungen – also zwischen sociétés
lignagères und der lignage
im testar'schen Verständnis. Dies führt jedoch
dazu, dass bei Gallay das Charakteristikum der blossen Möglichkeit einer Unterteilung als wichtigste
definitorische Bedingung in den Vordergrund gerückt und von der biologischen
Deutung sensu stricto
gelöst wird. In vorliegenden Ausführungen wird diese Auffassung geteilt: Sinngemäss präsentiert sich der eingangs dargelegte
Definitionsvorschlag auf Basis der Überlegungen von Sahlins
und Testart, welcher vordergründig vom Merkmal der limitierten
gesellschaftlichen Teilbarkeit abgeleitet wird. Die Kriterien Gallays werden also nicht als Widerspruch, sondern im
Sinne einer mit vorliegenden Aussagen vereinbaren, breiteren Definition
aufgefasst. Die weitgehende Bedeutungsübereinkunft beider Begriffe und die im
Rahmen dieser Arbeit festgelegte Definition lassen die Betrachtung zu, die
Segmentierung den organisations lignagères
als Eigenschaft zuzuschreiben (Boulestin 2016: 86; Gallay 2006: 67-72; Jeunesse 2016a: 8-10; Testart 2005:
109ff.). Gruppe 2: Sociétés à richesses
ostentatoires Obwohl sie in der Literatur nie explizit als segmentäre
Gesellschaften gekennzeichnet werden, weisen die von Gallay
als sociétés à richesses ostentatoires definierten Gruppen (bei Testart im
Wesentlichen den sociétés plutocratiques
à ostentation entsprechend) trotz eines
abweichenden politischen und wirtschaftlichen Aufbaus mit den organisations lignagères
vergleichbare soziale Organisationsstrukturen auf. Diese Behauptung lässt
sich aus den Begriffsdefinitionen von Testart und Gallay
weder direkt herleiten noch entkräften. Jedoch kommen gerade dem
verwandtschaftlichen Aufbau und der Unterteilung des sozialen Körpers eine
nicht unerhebliche Rolle zu – darauf lassen zumindest die von beiden Autoren
gewählten ethnologischen Beispiele schliessen. Die Möglichkeit ihrer Unterteilung wird in der Definition Testarts in
Bezug auf die politische Sphäre nur gestreift: Im Gegensatz zu den Subgruppen
der sociétés semi-étatiques
kann «niemand bestimmtes, ob Individuum oder Instanz, über eine [absolute]
richterliche Macht verfügen oder Krieg erklären» (Testart 2005: 98),
womit er den Grad der Autonomie der jeweiligen Gruppierungen anspricht.
Hinsichtlich der Organisationsstruktur manifestiert sich dies entweder im
vollständigen Fehlen von politischer Führungsorganen (chefs),
der Herausbildung von Chefs ohne Funktion oder ohne Macht (chefs sans fonction / sans pouvoir) (Gallay 2006:
31-32; Testart 2005: 98-102). Einer Aufteilung in potenziell segmentäre
Einheiten widerspricht dies nicht. Eine solche segmentartige Aufteilung kann beispielhaft anhand von
Gesellschaften der Inseln von Vanuatu beschrieben werden. Während in der
Mitte des Archipels ein Titelsystem zu fassen ist, ist es im Norden ein
System nach Rängen (beides innere Stukturen),
welches das soziale Gefüge ordnet und die Erstarkung einer lokalen, starken
politischen Macht verhindern (Abb. 3). Die daraus resultierende Hierarchie
kann mehrere Gruppen innerhalb eines Dorfes umfassen, welche die kleinsten
politischen Einheiten darstellen. Die Dörfer wiederum bilden – in einigen
Fällen inselübergreifend – eine grössere Einheit (Gallay 2006: 51-55; Gallay
2016: 39). Abbildung 3:
Classement des sociétés nach Alain Gallay. Die von Gallay vorgelegten megalithischen Gesellschaften sind auf
die sociétes à richesses
nach Testart (Monde II) beschränkt (blau) (Gallay
2006: 73). Jene megalithischen Gesellschaften mit segmentären Strukturen sind
grün markiert. 2.2 Gemeinsame Elemente segmentärer, megalithischer GesellschaftenNicht nur strukturell weisen die sociétés
à richesses ostentatoires
und die organisations lignagères
Gemeinsamkeiten auf, sondern ebenfalls hinsichtlich der für die Errichtung
megalithischer Bauten ursächlichen gesellschaftlichen Überzeugungen. Bei der
Betrachtung der von Testart und Gallay gewählten
ethnologischen Beispielen fällt auf, dass sich die Motivationen zur
Errichtung megalithischer Anlagen durch segmentäre Gesellschaften im
Wesentlichen in die beiden zentralen Bereiche «Macht der Lebenden» und
«Erinnern der Toten» einteilen lassen. Macht der Lebenden Der Erwerb eines sozialen Ranges wird häufig begleitet durch das
Ausrichten reicher Feste, deren Höhepunkt die Errichtung megalithischer
Bauten – in den ethnologischen Beispielen häufig in Form von Stelen oder
Menhiren – darstellt. Die betonte Zurschaustellung eines solchen Umstandes
wird in vorliegenden Ausführungen nicht nur als materialisierter Ausdruck der
sozialen Position innerhalb der Hierarchie aufgefasst, sondern auch insofern
als indexalisches Zeichen für die innehabende
Machtposition, als dass der Stifter kraft seiner sozialen Stellung die
herausragende Arbeitsleitung von der Gemeinschaft einzufordern vermag. Auf dem Archipel von Vanuatu wird der Erwerb eines sozialen Ranges
durch zahlreiche rituelle Handlungen begleitet, bei welchen das Ausrichten
reicher Feste eine prominente Rolle einnimmt. Der Rangerwerb, verbunden mit
Prestige- und Machtgewinn, wird durch die Errichtung eines für die jeweilige
Stufe charakteristischen hölzernen oder – in diesem Fall entscheidend –
steinernen (monolithischen) Bildnisses materialisiert, dessen primäre
Funktion es ist, diesen Umstand in sichtbarer Weise festzuhalten und ihn zu
kommunizieren (Gallay 2006: 51-55; Gallay 2016: 39). Bei den Naga steht die Errichtung megalithischer Bauten ebenfalls im
Zusammenhang mit dem Rangerwerb: So gebührt es dem Stifter als finale
Handlung und Höhepunkt von sechs aufeinanderfolgenden Banketten, zwei Menhire
vor seinem Haus errichten zu lassen als Zeichen seiner Position innerhalb der
hierarchischen Ordnung (Gallay 2005: 55-56; Gallay 2016: 40). Als weiteres Beispiel können etwa die
Handlungsweisen der Nias herbeigezogen werden: Eine soziale Position
innerhalb der festgelegten Hierarchie wird ebenfalls durch das Ausrichten von
kosten- und ressourcenintensiven Festen für die Mitglieder des eigenen Clans
erworben oder gefestigt, wofür einzelne Individuen unter gewissen Umständen
in Schuldverhältnisse eintreten (müssen). Die Zusammenkünfte dienen in
gleichem Masse der Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Ehen werden durch
die Übergabe materieller Güter bekräftigt, der Austausch von Frauen kann der
Begleichung von Schulden dienen. Insbesondere das Erreichen höherer Ränge
kann durch das Errichten eines Megalithen begleitet
werden, welche vor Hauseingängen oder auf Dorfplätzen positioniert werden (Gallay 2005: 56-59; Gallay
2016: 40-41). Erinnern der Toten Bei den gewählten ethnologischen Beispielen der Monde II nimmt der
identitäre Bezug der Lebenden zu ihren Ahnen (-linien) eine herausragende
Rolle ein, was mit der dargelegten sozialen Organisationsform in Verbindung
gebracht werden kann. Die Errichtung megalithscher
Bauten wird in diesem Zusammenhang als materialisierter Ausdruck der
verwandtschaftlichen Nähe und der Verbindung einzelner Individuen zu ihren
(mythischen) Urvätern aufgefasst. Der daraus abgeleitete Macht- und
Legitimierungsanspruch wird daran gemessen, wie weit zurück in die Vergangenheit
eine solche Beziehung dargelegt werden kann. Die baulichen Strukturen sind
häufig fester Bestandteil zeremonieller Landschaften. Sie kennzeichnen
spezifische Orte oder begrenzen Räume und rufen zugleich die durch sie
verkörperten Bezüge bei periodischen Zusammenkünften verschiedener Segmente
in die kollektive Erinnerung. Auf Vanuatu steht das Errichten monolithischer Bildnisse neben
Rangriten gleichermassen in Zusammenhang mit
identitätsstiftenden «Totenriten», in welchen die Verbindung und Nähe zu (göttlichen)
Vorfahren zum Ausdruck gebracht wird (Gallay 2016:
39). Ähnlich verhält es sich bei den Naga, bei welchen es dem Stifter im
Anschluss an die Ausrichtung zahlreicher Festakte zusteht, Menhire in kreis-
und linienförmigen Strukturen anzuordnen. Diese können «Tanzflächen» einschliessen und finden bei rituellen Akten im Sinne der
Erinnerung gemeinsamer Ahnen Anwendung (Gallay
2016: 40). Verwandte Mechanismen sind ebenso bei den Nias zu fassen. In
Erinnerung und Würdigung wichtiger Persönlichkeiten werden reich verzierte
Monolithen oder hölzerne Stelen – teilweise mit anthropomorphen Zügen – im
Dorfzentrum aufgerichtet, in der Hoffnung, diese würden durch den Geist des
Verstorbenen beseelt (Gallay 2006: 56-59). Das Errichten megalithischer Bauten steht bei den Toradja
vorwiegend mit Bestattungshandlungen ranghoher Gesellschaftsmitglieder in
Verbindung. Im Rahmen einer komplexen zeremoniellen Abfolge wird der Körper
des Verstorbenen an verschiedenen Orten für einen bestimmten Zeitraum
niedergelegt. Der Vorgang wird begleitet durch das Begehen von Festakten und
das Aufrichten von Monolithen. Bemerkenswerterweise markieren die Megalithen
dabei die Orte des rituellen Geschehens und nicht die Stelle der eigentlichen
Beisetzung (Gallay 2006: 59-60). 2.3 Mögliche Beweggründe für die Errichtung megalithischer BautenMit den beiden zentralen Punkten «Macht der Lebenden» und «Erinnern
der Toten» können zwei gemeinsame ideologische Gemeinsamkeiten segmentärer
Gesellschaften gefasst werden, die Hinweis darauf geben, unter welchen
Bedingungen sich jene komplexen Mechanismen innerhalb der Monde II
konstituieren, welche zur Errichtung megalithischer Bauten führen. Ihnen
gemeinsam ist die Motivation zur Erlangung oder zur Festigung sozialer oder
politischer Macht, weshalb zur Annäherung an die für den megalithischen
Ausdruck ursächlichen Bedingungen zunächst die machtbildenden Prozesse und
die Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Monde II diskutiert werden. Die Hauptmerkmale der Monde II stellen – ganz im Gegensatz zu Monde
I – die Existenz von Reichtum und die gleichzeitige Abwesenheit des
Grundbesitzes dar. Letzterer wird ausschliesslich
der Monde III zugeschrieben. • Reichtum: Der Reichtum
ist in sowohl materieller als auch in immaterieller Form eng verbunden mit
der Möglichkeit des (längerfristigen) Lagerns und somit auch des Anhäufens
von vorwiegend gut haltbaren agrarischen Gütern wie bspw. Getreide.
Alternativ erfüllt die Viehzucht mit dem Halten von Herden die gleichen
Voraussetzungen. Die Eigenschaft des Akkumulierens stellt dabei ausdrücklich
nicht das Abgrenzungskriterium zwischen freibeuterischen und bäuerlichen
Gesellschaften dar, zumal sowohl erstere lagerfähige Erzeugnisse anhäufen und
letztere schnell verderbliche landwirtschaftliche Produkte (bspw. Yam, Taro,
Maniok) anpflanzen können (Gallay 2006: 32-34;
Testart 2005: 37). Innerhalb der Gemeinschaft kann der Reichtum eingesetzt
werden, um soziale Obligationen (bspw. Wergeld oder Brautpreis) zu begleichen
oder um Schulden zu finanzieren. Da nicht in Produktionsmittel investiert
werden kann, wird angestrebt, dass alles, was über das Erfüllen von
Verbindlichkeiten hinausgeht, in einer sozial anerkannten Weise in Prestige
umzuwandeln. So kommt bspw. dem Stifter einer grosszügigen
Verteilung von Gütern («dépenses somptuaires» (Testart 2005: 45)) in Form der
Ausrichtung eines reichen Festes Prestige zu, welches sich wiederum auf die
Erhöhung des sozialen Rangs innerhalb der Gesellschaft auswirken kann. Ist
der Rangerwerb zudem in ein formelles System gegossen, spricht Testart von «plutocraties ostentatoires»
(Testart 2005: 45-46). • Grundbesitz: Der
Grundbesitz ist nicht bekannt: Die Verwaltung und die Zuteilung des zu
bewirtschaftenden Landes erfolgt durch die
Gemeinschaft. Das Besitzrecht kann den Begünstigten zwar nicht ohne weiteres
entzogen werden, von ihnen aber auch nicht veräussert
werden. Verfällt der Anspruch auf das Land durch Weggang oder Tod des oder
der Begünstigten, fällt dieser automatisch wieder an die Gemeinschaft zurück
(Gallay 2006: 27-29, 32-39; Sahlins
1972: 84-85; Testart 2005: 21-34). Bei der Auseinandersetzung mit den Systemen des Machterhalts
innerhalb der Monde II bildet der Reichtum einen ersten
Anknüpfungspunkt: Der Monde II liegt die Tendenz zugrunde, dass die
soziale Differenzierung durch die Existenz und die Ungleichverteilung des
Reichtums zustande kommt, was im Grunde zu der Acquisition von Rechten
gegenüber andern führt. Dies ist insbesondere deshalb der Fall, weil sich
Individuen bei Mangel eigener Ressourcen für die Begleichung von sozialen
Obligationen in ein Schuldverhältnis und somit in eine Abhängigkeit anderer
begeben müssen, um den eigenen sozialen Abstieg oder jener seiner Nachkommen
zu verhindern (bsp. Brautpreis oder Wergeld). Bei
diesen Verpflichtungen handelt es sich um den Erwerb «dauernder Rechte über
andere, [...] ganz anders als unser Verständnis eines Arbeitsverhältnisses,
welches dem Arbeitgeber nur ein temporäres Recht einräumt, auf die Leistungen
innerhalb eines vereinbarten Zeitraumes im Austausch gegen Entrichten eines
Gehaltes Anspruch zu erheben» (Testart 2005: 33). Die soziale Stellung
manifestiert sich somit nicht nur aufgrund des eigenen Reichtums und dessen
Umwandlung in Prestige, sondern ebenfalls durch (auf Reichtum bezogene)
einforderbare Abhängigkeitsverhältnisse in Form von bspw. Arbeitsleistung. Im Gegensatz zu staatlichen Gebilden der Monde III, in welchen
die Machtposition durch institutionalisierte Instanzen garantiert werden kann
und durchsetzbar ist, ist dies bei segmentären Gesellschaften nicht der Fall.
Aufgrund des Reichtums als Grundbedingung jeglicher
sozialer Stratifizierung liegt einerseits die Macht jeweils bei den
Reichsten, andererseits besteht das ständige Risiko, aufgrund einer
Verschuldung in eine Abhängigkeit zu geraten. Die soziale Positionierung
steht deshalb deutlich im Zeichen von kompetitiven Prozessen und zeichnet
sich durch eine hohe Dynamik aus. Die stetem Wandel
ausgesetzten sozialen (Macht-) Verhältnisse müssen infolgedessen stets
bestätigt, ausgehandelt, neu definiert, legitimiert und überliefert werden,
um ihre Aufrechterhaltung sicherzustellen (Gallay
2006: 69-70; Testart 2005: 47-48). Die megalithischen Bauten fungieren in
diesem Zusammenhang aufgrund der ihnen inhärenten Arbeitsleistung als Symbole
der Macht und stellen eine ständige Vergegenwärtigung durch die Gemeinschaft
sicher; das Errichten solcher Bauwerke wird erst dadurch ermöglicht, dass
Forderungen aus Abhängigkeits- oder Schuldverhältnissen eingefordert werden
können. Der zweite Punkt betrifft die segmentären Gesellschaften aufgrund
ihres strukturellen Aufbaus in besonderem Masse und fügt den macht- und
sozialpolitischen Sphären eine weitere Dimension hinzu: Den einzelnen
Segmenten liegt übergreifend eine gemeinsame Identität in Form einer
Abstammungslinie (innere Struktur) zugrunde, welche es überhaupt erlaubt,
periodisch in grösseren Gemeinschaften politisch
agieren zu können – dies wird sowohl in der prozessualistischen
als auch in der testarsch'en Argumentationslinie
aufgegriffen (vgl. Kap. 1). Megalithische Bauten, die in Gedenken an ranghohe
Verstorbene innerhalb der Lineage oder in Andenken an (göttliche) Vorfahren
errichtet werden, stehen dabei im Zusammenhang mit der Vergegenwärtigung einer
gemeinsamen «Identität», einer geistigen Einheit, eines Gemeinschaftsgefühls.
Im Vordergrund steht dabei die Stärkung der sozialen Struktur und
dementsprechend die Stärkung der Machtsysteme resp. das Aufrechterhalten
zwischensegmentärer Verbindungen, um deren Auseinanderbrechen zu verhindern. 3 Das kollektive und das kulturelle GedächtnisDas Errichten megalithischer Bauwerke steht innerhalb der Monde II
in Verbindung mit ostentativen Handlungsweisen, in deren Rahmen soziale und
politische Machtpositionen materialisiert werden. Das der sozialen
Reproduktion, des Rangerwerbs, des Ausrichtens reicher Feste oder des
Ahnengedenkens zugrunde liegende Element ist jenes des gemeinschaftlichen
Erinnerns und Vergegenwärtigen eines Umstandes, den es in einem Kollektiv zu
bewahren gilt. So werden die megalithischen Strukturen in vorliegenden
Ausführungen als dingliche Übertragungs- und Speichermedien im Sinne eines gemeinschaftlichen
Gedächtnisses verstanden, welche sich an das von Jan Assmann formulierte
Modell des kulturellen Gedächtnisses anlehnen. Die Arbeit Assmanns eignet
sich als Erklärungsansatz für die Korrelation zwischen dem megalithischen
Phänomen und den segmentären Organisationsformen der Monde II nach
Testart deshalb gut, weil die dargelegten Machtsysteme, der gesellschaftliche
Aufbau und die Motivationen zur Errichtung megalithischer Bauwerke
miteinander verknüpft werden können. Insbesondere in der deutschen Literatur wird die Megalithik
häufig in den Bezugsrahmen einer gemeinsamen Identität der errichtenden
Gemeinschaft gesetzt, ohne dabei diesen Begriff scharf zu umreissen.
Im Sinne eines gemeinsamen Gedächtnisses, das Assmann als kollektiv
respektive als kommunikativ oder kulturell anspricht, wird diese Auffassung
übernommen: «Identität ist eine Sache des Bewusstseins, d.h. des
Reflexivwerdens eines unbewussten Selbstbildes. (…) Eine Gruppe (…) [ist
Gemeinschaft] nur in dem Masse, wie sie sich im Rahmen solcher Begriffe
versteht und darstellt» (Assmann 1992: 130). Die Existenz solcher
Selbstbilder, deren Bedingung ein gemeinsames Gedächtnis ist, wird für die
Betrachtungen vorausgesetzt. Innerhalb eines gesellschaftlichen Körpers formen sich sowohl das
individuelle Gedächtnis aller Beteiligten als auch das gemeinsame
Gruppengedächtnis – in der Terminologie Assmanns das kollektive Gedächtnis –
in einem sozialen Bezugsrahmen und in dessen Abhängigkeit. Dabei bezeichnet
er die jeweiligen (individuellen oder gruppenbezogenen) Erinnerungen als
«unabhängige Systeme», deren Elemente sich gegenseitig stützen und ein
Gedächtnis im eigentlichen Sinne konstituieren. Um in
dieses Einlass zu finden und um im Gruppenbezug weiter zu existieren,
müssen sämtliche Ereignisse in Symbole oder Begriffe transformiert werden,
d.h. in einen Raum-, Zeit- oder Gruppenbezug gesetzt werden (Assmann 1992:
34-38). Assmann äussert sich zum Zeitbezug folgendermassen: «Zeithaltig sind die Erinnerungsgehalte
sowohl durch das Anklammern an urzeitliche oder hervorragende Ereignisse als
auch durch den periodischen Rhythmus des Erinnerungsbezuges» (Assmann
1992: 38). Der Raum und die «zugehörige Dingwelt»
in bspw. der Form des gebauten Raumes (spezifische Anordnung baulicher
Elemente wie Steinkreise, Tanzflächen, Bildnisse, etc.) sind als Orte der
Konsolidierung und als Orte für (Gruppen-) Interaktionen zu verstehen. Der
Gruppenbezug ergibt sich daraus, dass das Kollektivgedächtnis, das gerade nicht
metaphorisch zu verstehen ist, Träger braucht, an welchen es haftet; es ist
nicht beliebig übertragbar – nur wer an ihnen teilhat, bezeugt
Gruppenzugehörigkeit (Assmann 1992: 38-39). Bei Betrachtung der Motivationen
«Macht der Lebenden» und «Erinnern der Toten» sind diese Zusammenhänge
deutlich erkennbar: Das periodische Zusammenfinden an bestimmten Orten,
welche der Bewahrung gemeinschaftlicher, «identitärer» Erinnerungen dienen
(insb. Totengedenken) oder einen Gemeinschaftsbezug (Machtsysteme, Hierarchie)
herstellen, sind in diesen Bezug zu setzen. Mit dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses lassen sich zwar die
für die Errichtung megalithischer Bauten ursächlichen gesellschaftlichen
Vorgänge und Überzeugungen als identitätsstiftende Handlungen in einem
Erinnerungsbezug beschreiben, die Megalithik an und
für sich tangiert dies aber nur am Rande. Eine entsprechende Präzisierung
ermöglicht das Konzept des kulturellen Gedächtnisses. Abbildung 4: Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis nach J.
Assmann (Assmann 1992: 56). Assmann untergliedert das kollektive Gedächtnis weiter in das
kommunikative und das kulturelle Gedächtnis (Abb. 4). Ersteres umfasst
Erinnerungen, welche durch persönliche Erfahrung und Kommunikation verbürgt
sind, also einen rezenten Vergangenheitsbezug aufweisen. Das gruppengebundene
Generationengedächtnis widerspiegelt «Geschichtserfahrungen im Rahmen
individueller Biographien», welches ca. 80-100 Jahre umfasst und im
weitesten Sinne der oral history entspricht
(Assmann 1992: 56). Anders als das kommunikative ist das kulturelle
Gedächtnis auf Fixpunkte in der Vergangenheit gerichtet und steht für die
«mythische Urgeschichte». Die Erinnerung ist nicht mehr an eine Gruppe mit
bestimmten Lebensgeschichten gebunden, sondern an die gemeinschaftliche
Teilhabe an der erinnerten – und nicht der faktischen – Geschichte im Rahmen
zeremonieller Kommunikation, wie bspw. Festakte bei Toten- oder Ahnenriten
oder beim Rangerwerb. Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis, welches
informell und wenig geformt ist, braucht das einen hohen Grad an Geformtheit
aufweisende kulturelle Gedächtnis spezialisierte Träger wie Schamanen, welche
in gewisser Weise als Speichermedium fungieren (Assmann 1992: 48-56). Insbesondere bei schriftlosen Gesellschaften wird der Übertragung der
gemeinschaftlichen Erinnerungen in ein materialisiertes, für alle stets
sichtbares, dauerhaftes Speichermedium erhebliche Bedeutung beigemessen. Das
megalithische Phänomen wird in diesem Zusammenhang als das Transformieren
gesellschaftlicher Umstände, die es zu bewahren und erinnern gilt, angesehen.
Die häufig genannten Beispiele der Zugehörigkeit zu einer spezifischen
Abstammungslinie oder das Zeigen eines sozialen Status oder Rangs lassen sich
problemlos in dieses Modell einfügen. 4 FazitDie unterschiedliche begriffliche Auffassung segmentärer
Gesellschaften aus Sicht der neoevolutionistisch-prozessualistischen
Schule und aus der Sicht von Testart lassen keine enge Begriffsdefinition zu.
Unter der Bezeichnung ist ein sozialer Körper mit einer inneren Struktur
beschrieben, der in eine limitierte Anzahl kleinerer, autonom handelnder
Einheiten (Segmente) unterteilt werden kann, welche als geistige Einheit
miteinander verbunden sind. Bei der Betrachtung der Organisationsstrukturen jener Gesellschaften,
die megalithische Bauten errichten, erweist sich die Segmentarität
als ein wiederkehrendes Element, welches in der Literatur in diesem Bezug nie
explizit Erwähnung findet. Die Gruppen, welchen beide Merkmale eigen sind (organisations lignagères
und sociétés à richesses
ostentatoires), sind in der Monde II des
Klassifikationsschemas von Testart verortet. Die möglichen Beweggründe für die Errichtung megalithischer Bauten
haben alle eine machtpolitische Komponente und stehen im Zusammenhang mit den
sozialen Organisationsstrukturen und den sich daraus ergebenden
Abhängigkeitsverhältnissen. Die beiden zentralen Antriebe, die Demonstration
der Macht der Lebenden sowie das Erinnern der Toten, stehen mit
Machterhaltung und sozialer resp. politischer Reproduktion in Verbindung, die
insbesondere bei schriftlosen Gesellschaften mit segmentären Strukturen an
Bedeutung gewinnen. Einerseits ist die Darlegung und Legitimierung einer
Machtposition im Rahmen autonomer Gruppen gemeinsamer Identität aufgrund der
nur sporadischen Zusammenkunft klar zu kommunizieren, andererseits sind die,
die Gruppierungen verbindenden Elemente aufrecht zu erhalten, um ein
Auseinanderdriften der Einheiten zu verhindern. Durch die Schaffung von Orten
der Erinnerung und der Identitätsvergegenwärtigung im Sinne des kulturellen
Gedächtnisses nach Jan Assmann werden flüchtige Umstände, die es zu erinnern
gilt, in feste Formen transformiert. Dabei können die Megalithen als
dauerhafte, schriftlose Speichermedien angesprochen werden. Das Zurückgreifen auf megalithische Bauten als schriftloses
Speichermedium oder als Identitäts- und Erinnerungsträger kann bei
segmentären Gesellschaften aufgrund ihrer Organisationsstruktur schlüssig
anhand des Modells nach Assmann dargelegt werden. Es vermag eine Brücke
zwischen dem megalithischen Ausdruck, den Beweggründen ihrer Errichtung und
der sozialen Organisationsstruktur zu schlagen. Als eine (absolute)
Voraussetzung für das Errichten megalithischer Bauten darf die Segmentierung
aber nicht verstanden werden; aufgezeigt werden konnte bloss
eine augenfällige Korrelation, zu deren Erklärung vorliegende Überlegungen formuliert
wurden. Die Komplexität der megalithischen Thematik ist auch bei weitem nicht
mit den Werkzeugen, die Testart und Gallay zur
Verfügung stellen, in seiner Gänze zu fassen. Sie bieten aber die Grundlage
für alternative Zugänge, die es zu diskutieren und erweitern gilt. 5 LiteraturAssmann 1992 Boulestin 2016 Darvill 2008 Gallay 2006 Gallay 2016 Jeunesse 2016a Jeunesse 2016b Renfrew/Bahn 2000 Testart 2005 Testart 2014 |
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