Was sind
megalithische Gesellschaften? Testarts
Klassifikationssystem und die Frage nach der Verortung der megalithischen
Gesellschaften Timo Geitlinger |
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2 Testarts
Klassifikationssystem 3
Megalithische Gesellschaften 5 Provisorisches
Literaturverzeichnis |
Megalithen [1] treten
weder in einem geografisch einheitlichen Raum noch in einem zeitlich begrenzten
Rahmen auf, sondern sind auf fast allen Kontinenten und mindestens seit den
letzten 6'500 Jahren der Menschheitsgeschichte fassbar (Gallay
2004, p. 9). Die Vermutung liegt daher nahe, dass Megalithismus
als Phänomen weniger als distinkte kulturelle Erscheinung erklärt werden
kann, die sich von einem Ausgangspunkt kontinuierlich über die Welt
verbreitet hat, sondern viel mehr Ausdruck von ähnlichen sozialen,
wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen ist, die unabhängig von Zeit
und Raum in verschiedenen Gesellschaften herrschten. Ein geeigneter Rahmen, um
megalithische Gesellschaften miteinander in Beziehung zu setzen und über ihre
strukturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten nachzudenken, bietet Alain
Testarts einflussreiche Gesellschaftsklassifikation. Testart entwickelte
diese anfangs der 2000er-Jahre in seinem Werk Eléments
de classification des sociétés
(Testart 2005) in klarer Abgrenzung zu gängigen, neoevolutionären
Klassifikationsschemata und führte seine Überlegungen bis zu seinem Tod im
Jahr 2013 in verschiedenen Beiträgen aus (Testart 2012; Testart 2014). Zwar
wurde Testarts Klassifikation von menschlichen Gesellschaften in der
Diskussion um Megalithen immer wieder aufgegriffen und produktiv angewendet,
doch beschränkten sich diesbezügliche Beiträge meist auf den frankophonen
Forschungsdiskurs und wurden im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum
kaum rezipiert. So kommt es, dass im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
geförderten und 2019 erschienenen 1'200 seitigen
Tagungsband der Konferenz Megaliths – Societies – Landscapes.
Early Monumentality and Social
Differentiation in Neolithic Europe (Müller et
al. 2019) Alain Testart nur dreimal zitiert wird, kein einziges Mal aber im
Kontext seiner Klassifikation von Gesellschaften. In einem vergleichbaren 294 seitigen Sammelband (Jeunesse et al. 2016), der im
Anschluss an einen Table Ronde in Strassburg im Jahr 2016 publiziert
und unter anderem vom Centre national de
la recherche scientifique
gefördert wurde, entfallen auf Testart 294 namentliche Erwähnungen. Testarts Klassifikationssystem
und mögliche Rückschlüsse, die es auf megalithische Gesellschaften zulässt,
werden in diesem Artikel ausführlich beleuchtet. Dazu wird in einem ersten
Kapitel auf Testarts Klassifikationssystem eingegangen, wobei für die
französische Terminologie erstmals quellennahe deutschsprachige
Übersetzungsversuche vorgeschlagen werden. In einem zweiten Kapitel sollen
die bisherigen Anwendungsversuche des Klassifikationssystems auf
megalithische Gesellschaften kritisch rezipiert werden. 2.
Testarts Klassifikationssystem 2. 1. Das Wesen von Testarts
Klassifikation Testarts Klassifikation von
Gesellschaften [2] ist eine Ordnung
auf Basis der Natur [3] der
umschriebenen Phänomene. Als solche ist sie nicht apriori
Ausdruck von Evolution – also auch nicht wie biologische und linguistische
Klassifikation prinzipiell phylogenetisch. Erst wenn sie mit zeitlichen und
historischen Begebenheiten in Verknüpfung gebracht wird, kann sie als
Grundlage und Mittel dienen, um über Evolution nachzudenken und historische
Prozesse zu verstehen (Testart 2005, p. 10-11). Diese klare Unterscheidung
ist für Testarts Denken insofern bedeutend, als dass aus ihr einerseits seine
tieferliegende Motivation für die Klassifikation ersichtlich wird;
offensichtlich schwebte ihm ein ganzes Forschungsprogramm vor, in dem er sich
auf Basis der Klassifikation der umfassenden archäo-ethnologischen
Untersuchung der Evolution von Gesellschaften widmen wollte, das aber mit Avant l'Histoire
(Testart 2012) vermutlich nur partiell seinen Abschluss fand (Testart 2005,
p. 11). Andererseits schwingt darin auch
bereits deutlich eine erste Kritik an neoevolutionären
Klassifikationssystemen mit, welche diese klare Unterscheidung nicht machen:
Neoevolutionisten gehen in ihrer Klassifikation von einer inhärenten
historisch-evolutionären Komponente aus, dass also alle Gesellschaften
zwangsläufig und logischerweise die verschiedenen Stufen der Klassifikation
durchlaufen oder durchlaufen haben. Zwar gibt es mehrere neoevolutionäre
Klassifikationssysteme – das bekannteste ist dabei wohl die Unterteilung von
Elman Service in Hordengesellschaft (Bande),
Stammesgesellschaft (Tribe), Häuptlingstum (Chiefdom) und Staat (State) (Service 1965) –, doch weisen
sie alle grundlegende gemeinsame Charakteristika auf; alle Klassifikationen
erkennen die Produktionsverhältnisse und Populationsdichte als zentrale Elemente
der Klassifikation an und klassifizieren die Gesellschaften nach
verschiedenen 'Integrationsniveaus'. Eine Zunahme der inneren Integration im
Zuge demografischer und wirtschaftlicher Veränderung geht dabei mit einem
Anstieg der Komplexität und Hierarchisierung von Gesellschaften einher
(Service 1965; Steward 1955; Testart 2012, p. 52-57). Testarts Kritik setzt genau an
diesem Punkt an: Integration wird als schwammige Worthülse zurückgewiesen,
die von den Neoevolutionisten ohne weitere Begriffserklärung verwendet wird
und einen bisher nicht belegten Zusammenhang zwischen sozialer
Organisationsweise und Dichte des sozialen Netzes suggeriert. Und auch eine
Reduktion des Begriffs Integration auf die Gruppengrösse wäre fatal, zumal
dann morphologische Kriterien die Grundlage der Klassifikation darstellten [4]. Indem
sich diese Klassifikationen auf Integrationsniveaus beschränken, ignorieren
sie alle grundlegenden strukturellen soziologischen Einheiten von
Gesellschaften wie Wirtschaft, Politik oder Technologie und vermögen dadurch
niemals die Komplexität von gesellschaftlichen Prozessen wiederzugeben.
Weiter stellen die neoevolutionären Klassifikationen in Testarts Verständnis
keine evolutionäre Gliederung, sondern eine hierarchische Klassifizierung
dar; da nur ethnologische und keine historischen sowie archäologischen
Quellen einbezogen werden (Testart 2012, p. 58-59), können sie offensichtlich
auch keine realhistorischen Begebenheiten darstellen. Ansonsten müssten die
antiken Staaten Griechenlands beispielsweise jünger eingeordnet werden als
die Wildbeuter der Nord-Westküste Kanadas (Testart 2005, p. 16-17). Komplexität und Hierarchisierung
implizieren zudem ein völlig falsches Verständnis von Evolution. Viele
scheinbar primitive Gesellschaften sind in Bezug auf ihre soziale Struktur,
Ideologien und politischen Kontroversen äusserst vielfältig, weshalb
Evolution nicht einfach als Entwicklung von primitiv nach komplex verstanden
werden darf. Dieses fatale Missverständnis fusst dabei auf mehreren
grundlegenden Irrtümern; wir tendieren dazu, das als am primitivsten zu
klassifizieren, was am weitesten von unserer eigenen Lebensweise entfernt
ist. Soziale Beziehungen funktionieren im Gegensatz zu Technologie jedoch
nicht kumulativ und sammeln sich im Verlauf der Zeit nicht automatisch an.
Zudem muss man immer eine doppelte Überlieferungslücke im archäologischen und
historischen Quellenmaterial berücksichtigen, da soziale Handlungen nur
selten Niederschlag im Befundbild finden und die meisten nicht staatlichen
Gesellschaften auch kein Schriftquellen hinterlassen haben (Testart 2005, p.
19f.; Testart 2012, p. 71-74). Für seine Klassifikation
schliesst Testart daraus, dass sie sich gleich wie die biologische
Klassifikation von Tieren und Pflanzen auf die Struktur des zu
klassifizierenden Gegenstands (Gesellschaft) beziehen muss, aber im Gegensatz
zur biologischen Klassifikation von keiner immanenten Komplexifizierung
ausgehen darf. Als zentrale strukturelle Elemente von Gesellschaften stützt
er sich dabei als Klassifikationskriterien vordergründig auf Wirtschaft [5] und Politik [6], zweitrangig
auf soziale Organisationsformen ab. 2.2. Testarts wirtschaftliche
Klassifikation Das uns geläufigste
Wirtschaftssystem ist jenes, bei dem die Produktionsmittel im Privatbesitz sind.
Es wird von Testart als Welt III bezeichnet. Im vorindustriellen Zeitalter
war das wichtigste Produktionsmittel der Boden [7]. In diesen
agrarischen Gesellschaften lassen sich drei grundlegende Merkmale festhalten;
erstens existiert eine Klasse, die den Boden besitzt [8], die,
zweitens, den Boden gegen eine Bodenrente [9] verpachtet
und zwar, drittens, an eine Klasse, die keinen Boden besitzt und ausgebeutet
wird. Im marxistischen Sinn existiert also ein inhärenter Widerspruch
zwischen jenen, die Produktionsmittel besitzen, und jenen, die dies nicht tun
(Testart 2005, p. 26). Wie uns aber ethnografische
Beispiele aus dem präkolonialen Afrika zeigen, existieren auch
Gesellschaften, die keinen Besitz auf Boden, sondern nur auf die Resultate
der eigenen Arbeit kennen. Das Land wird von den übergeordneten politischen
Strukturen [10] verwaltet und nach Bedarf
an die Mitglieder der Gesellschaft verteilt. Es ist nur so lange im Besitz
einer Person, wie es von dieser Person bewirtschaftet wird. [11] Ein Bauer ohne Land
existiert daher nicht und Renten können nur durch die Abhängigkeit von
Menschen – durch die Verpfändung von Arbeit oder Sklaverei [12] – erzielt
werden. Testart bezeichnet dieses Szenario als Welt II (Testart 2005, p.
28-29). Daneben gibt es aber auch Gesellschaften,
die keinen sozial nützlichen Reichtum kennen [13]. Der Unterschied zwischen
diesen von Testart unter dem Begriff Welt I zusammengefassten Gesellschaften
und jenen der Welt II liegt massgeblich in der techno-ökonomischen
Produktionsweise, im Speziellen im Vorhanden- und Abwesendsein
von Gebrauchsgüterlagerung. So finden sich in der Welt I Gesellschaften, die
als Jäger und Sammler respektive als Gartenbauer ihre Subsistenz auf nicht lagerbare Erzeugnissen ausgelegt haben. Das
Jäger-Sammlertum ist jedoch nicht ein
ausschliessendes Kriterium für die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zur Welt
I, zumal auch Wild- und Feldbeuter – wie
beispielsweise die Nord-West-Küsten Gruppen Kanadas – Subsistenzmittel lagern
konnten. Da sie für die Frage nach
megalithischen Gesellschaften besonders zentral ist, werde ich mich in den
folgenden Ausführungen massgeblich auf die Welt II beschränken. Ein
grundlegender Unterschied der drei Welten wird deutlich sichtbar, wenn der
Begriff des Reichtums eingeführt wird. Reichtum bezeichnet eine Ansammlung
von materiellen und immateriellen Gütern, die einen Gebrauchswert haben und
sich eignen, getauscht zu werden. Güter können auch Rechte an anderen
Menschen oder an Dingen sein (Testart 2005, p. 33). Wirtschaftliche Macht
geht also immer vom Besitz von Gütern aus (Testart 2005, p. 40). Reichtum
wird erreicht, wenn alle Bedürfnisse gedeckt und zudem alle wünschenswerten
Dinge, die darüber hinaus vorstellbar sind, erworben werden können. Während Reichtum
in der Welt I nicht existiert, führt er in der Welt III dazu, dass mehr Land
gekauft werden kann, was in grösserer Bodenrente, mehr Reichtum und – indem
man über mehr Menschen wirtschaftlich verfügt – in Akkumulation von Macht
resultiert (Testart 2005, p. 28-29). In der Welt II existiert aber kein
Landbesitz, typischerweise auch keine Lohnarbeit, da die Subsistenz durch die
eigene Arbeit gedeckt wird. Reichtum ist also weder überlebensnotwendig, noch
kann er produktiv reinvestiert werden (Testart 2005, p. 28-29; ebd., p. 41). Was kann man in der Welt II aber
nun mit Reichtum tun? Einerseits kann Reichtum dazu verwendet werden, soziale
Verpflichtungen zu begleichen. Typischerweise gibt es in der Welt II drei
Arten von solchen Zahlungen: Brautgeld im Zuge der Heirat [14], Blutpreis respektive Wergeld [15] oder Strafzahlungen [16]. Diese
Verpflichtungen werden meistens in Form von Geld, also nach Testarts Verständnis
mit einem standardisierten Zahlungsmittel mit gegenseitig anerkanntem Wert
(Testart 2005, p. 28), getätigt. Verschuldung ist dementsprechend in der Welt
II ein besonders grosses Problem, da soziale Verpflichtungen bei fehlendem
Reichtum nicht mehr beglichen werden können und dies sogar im schlimmsten
Fall zur Versklavung der verschuldeten Person führen kann (Testart 2005, p.
32; ebd., p. 42-43). Da Sklaverei sowohl Ausdruck als auch Mittel zur
Ansammlung von Reichtum ist, erstaunt es in diesem Sinne kaum, dass Sklaverei
in fast allen Gesellschaften der Welt II auftritt (Testart 2005, p. 43). Da es nur in einem begrenzten
Umfang Möglichkeiten gibt, den Reichtum produktiv zu investieren, erscheint
es nach Begleichung der sozialen Verpflichtungen in den Gesellschaften der
Welt II hauptsächlich erstrebenswert, Reichtum auf eine sozial anerkannte Art
und Weise auszugeben, so dass der Gebende längerfristig dafür soziale
Wertschätzung erfährt, der Reichtum also in Prestige umgewandelt wird (s. Abb. 1). Existiert für diesen Zweck ein formelles System,
spricht man im Kontext der Welt II von ostentativen Plutokratien. [17] Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten,
wie Reichtum ostentativ in Prestige umgewandelt werden kann; durch die Spende
oder Verteilung von Reichtum [18], durch den Erwerb von
Gebrauchsgütern oder durch Zahlungen, die rein verschwenderischen Zwecken dienen.
Solche ostentative Praktiken können vielseitige
Ausprägungsformen annehmen (Vgl. Tab. 1). Abb. 1:
Gesellschaftliche Verwendung von Reichtum in der Welt II (links) und der Welt
III (rechts). Tab. 1: Beispiele
für ostentative Praktiken der Welt II (Testart 2005, p. 49-58). Aus den Gesellschaften der Welt
II leitet Testart fünf inhärente Tendenzen ab; erstens, dass eine soziale
Differenzierung nach Reichtum entsteht, die zweitens in einer
gesellschaftlichen Stratifizierung resultiert, bestehend aus der reichen
Elite, welche durch ihren Reichtum die meiste politische Macht ausübt und
ostentative Ausgaben tätigen kann, der gemeinen Bevölkerung, die ihre sozialen
Verpflichtungen nachkommen kann, und jenen, die zu wenig besitzen und
verschuldet sind.
[19] Hierbei von
egalitären Gesellschaften zu sprechen, ist aus Sicht von Testart deshalb
völlig absurd (Testart 2012, p. 413-416). Drittens werden die armen
Bevölkerungsschichten finanziell immer weiter abhängig gemacht; dies geht oft
mit der Entstehung von Klientelbeziehungen innerhalb von diesen
Gesellschaften einher (Testart 2012, p. 413). Ohne andere politische
Mechanismen ist, viertens, deshalb der Reichste der Mächtigste; diese
Gesellschaften sind also spontan plutokratisch. Besonders bedeutend ist in
diesem Zusammenhang die Figur des Big Man, als der Person, welche in
diesem System Macht besitzt, weil sie reich ist (Testart 2005, p. 44-45). Da,
fünftens, der Reichtum nicht produktiv ausgegeben werden kann, existiert eine
inhärente Tendenz zu ostentativen Gaben (Testart 2005, p. 47-48). Ein weiterer klassifizierender
ökonomischer Aspekt der Gesellschaften der Welt II umfasst die Heiratssysteme.
Besonders zentral ist dabei der Brautpreis. Es kann nach Gesellschaften
unterschieden werden, die einen Brautpreis zahlen, ohne dass sie eine Mitgift
[20] bekommen (Modus B [21]), und jenen, die zwar einen
Brautpreis zahlen, aber eine Mitgift zurückbekommen (Modus C [22]). Diese kann substanziell
kleiner oder grösser oder gleich wie der Brautpreis ausfallen. Besonders
problematisch ist der Brautpreis ohne Mitgift, da er unter Umständen eine
Verschuldung und sogar eine Versklavung des Gatten zur Folge hat. [23] Eine Verschuldung und
Versklavung kann nur umgangen werden, wenn symmetrisch geheiratet wird [24], der Brautpreis vor der Heirat
gezahlt werden muss oder eine Mitgift zurückkommt, mit der die Schulden
beglichen werden können (Modus C). Da die Frauen ganz von ihren Vätern
losgekauft werden, sind Frauen bei Heiratssystemen des Modus C tendenziell
autonomer. Indem keine Schulden oder Knechtbeziehungen
entstehen, existiert eine kleinere Ausbeutung der ärmeren
Bevölkerungsschichten. Im Gegensatz zum Modus B sind Klientelbeziehungen
dadurch wichtiger als klassische Herr-Knecht-Beziehungen, was zudem auch den
grösseren Fokus jener Gesellschaften auf den Wert der ostentativen Gabe
erklärt. All dies verbindet Testart grundsätzlich mit einer demokratischeren
Gesellschaftsorientierung (Testart 2005, p. 69). Indem beim Modus B Menschen durch
Schulden versklavt werden können, wird eine indirekte ökonomischen
Ungleichheit [25] in eine direkte
Abhängigkeit zwischen Herr und Sklave transformiert [26]. Dass die Vermögenden nun die Möglichkeit haben, die Verschuldeten
formal frei zu lassen, schafft eine ständige Abhängigkeit, welche die
Vermögenden zu Herrschern macht, und sichert dem Vermögenden die ständige,
über die Verpflichtung gegenüber einer Gemeinschaft hinausgehende Loyalität
der verschuldeten Person. Typischerweise sind genau diese Systeme mit
ausgeprägten Herr-Knecht-Beziehungen die Vorläufer des Despotismus und
despotischer Staaten [27]. 2. 3. Testarts politische
Klassifikation Als zweites zentrales
Charakteristikum stützt Testart sich in seiner Klassifikation auf Politik.
Was Testart unter Politik versteht, wird am besten aufgrund seiner
Ausführungen zum Staat verstanden. Ihm zufolge braucht ein Staat nicht
dringend ein Territorium, denn Politik bezieht sich immer auf Menschen, das
Territorium umschreibt lediglich die Gemeinschaften eines bestimmten Gebiets,
über die Macht ausgeübt wird. Auch Webers Definition des Staates als Struktur
mit einzigem legitimen Gewaltmonopol weist Testart zurück. Der Staat muss
nämlich nicht das Gewaltmonopol besitzen, sondern lediglich genug Gewalt,
damit sich keines seiner Mitglieder ihm widersetzen kann und diese für alle
gleichsam bindend ist. Ein wichtiges Charakteristikum des Staates ist dabei,
dass diese Gewalt separat von der Zivilgesellschaft organisiert, exklusiv vom
Staat kontrolliert und nur für ihn zugänglich ist. Damit dies gewährleistet
werden kann, muss die Souveränität, also die höchste Macht des Staates,
einzig und unteilbar sein (Testart 2005, p. 82-86). Bei nicht staatlichen
Gesellschaften ist dies genau umgekehrt: Weil niemand eine Macht hat, die
grösser ist, als jene aller anderen Teile der Gesellschaft, unterteilt sich
die Gesellschaft bei Unstimmigkeiten. In segmentären Gesellschaften kann
diese Teilung soweit fortschreiten, dass unterhalb der Macht jedes einzelnen
Segments keine grössere übergeordnete Macht mehr existiert. Daraus folgt
auch, dass in nicht-staatlichen Gesellschaften – von Testart auch minimale
Organisationsformen genannt – einstimmige Entscheidungen getroffen werden
müssen, da sonst die Gesellschaft in ihre Unterteile zerfällt (Testart 2005,
p. 86-88). Neben Staat und Nicht-Staat gibt
es tatsächlich aber auch noch eine Zwischenform, den sogenannten Semi-Staat.
Typische Beispiele dafür sind Gesellschaften, die sich entlang einer
Abstammungslinie gliedern: Sie sind zwar unterteilbar aber nur in eine endliche
Anzahl und auf eine regelmässige Art und Weise. Zwar kennen diese
Semi-Staaten im Gegensatz zu Staaten keine separat organisierte Gewalt,
typischerweise gibt es aber in Semi-Staaten Mechanismen – wie z. B. ein Rat
–, der verhindert, dass Gewalt willkürlich ausgeübt wird (Testart 2005, p.
88-90). Um nun die verschiedenen
politischen Organisationsformen nicht nur ex negativo aus dem Staat heraus
zu definieren, ist es notwendig, sich zu fragen, wer in den jeweiligen
Organisationsformen die politische Macht trägt; während klassischerweise
davon ausgegangen wird, dass Könige Staaten vorstehen, haben nach der
neoevolutionären Tradition Chefs die leitenden Funktionen der übrigen
Organisationsformen inne. Was ein Chef aus politischer Sicht genau ausmacht,
wird jedoch nur selten definiert, lässt sich aber grundsätzlich an vier
Elementen festmachen: Chefs haben meistens einen Titel, Funktionen und Missionen,
Macht samt Attributen und Mitteln, mit denen sie ausgestattet sind. Während
wir uns aus unserer heutigen, staatlich geprägten Perspektive gewohnt sind,
dass unsere Chefs all diese Elemente in sich vereinen und eine imperative
Gewalt ausüben, die sie vom Staat delegiert bekommen, deuten ethnografische
Vergleiche darauf hin, dass die Chefs aller nicht-staatlichen
Organisationsformen durch die Abwesenheit eines oder mehrerer dieser Elemente
geprägt ist (vgl. Tab. 2) (Testart 2005, p. 91-96). Tab. 2: Beispiele
für Chefs nicht staatlicher Organisationsformen (Testart 2005, p. 92-104) In minimalen Organisationsformen
hat niemand die Macht, Krieg auszurufen oder Recht zu sprechen. Es handelt
sich dabei entweder um cheflose Gesellschaften oder
Gruppen mit Chefs ohne Macht oder ohne respektive mit minimalen Funktionen
(vgl. Tab. 2); sie nehmen beispielsweise repräsentative
Funktionen wahr, helfen mittellosen Gesellschaftsmitgliedern, stiften
Frieden, haben aber keine fest definierte Aufgabe und werden aufgrund ihres
Reichtums oder Prestiges zu Chefs (Testart 2012, p. 452). Unter den Semi-Staaten
unterscheidet Testart drei hauptsächliche Organisationsformen: Primitive
Demokratien [28],
Verwandtschaftsorganisationen [29] und Alters- und
Generationsklassensysteme [30]. Primitive Demokratien verfügen
über eine direkte oder repräsentative Volksversammlung, die über Krieg und
Frieden entscheidet und gegen deren Beschluss sich kein Gesellschaftsmitglied
widersetzen kann. Mit der Organisation des Kriegsunternehmens wird dann ein
Repräsentant beauftragt, der aber den Krieg aus seinen eigenen Mitteln
ermöglichen muss (vgl. Tab. 2, Chef ohne Mittel). Diese
Organisationsformen, die typischerweise mit den nordamerikanischen Iroquois in Verbindung gebracht werden, weisen zwar
staatsähnliche Züge auf; indem sie aber die Gewalt weder separat organisieren
– eine Wehrpflicht existiert nicht –, noch die Gefahr einer Spaltung der
Gesellschaft ständig vorbeugen können – weshalb die Volksversammlung auch
einstimmige Entscheidungen treffen muss – unterscheiden sie sich von
staatlichen Konstrukten deutlich. Die Volksversammlung ist zwar souverän,
diese Souveränität beschränkt sich aber auf negative, verbietende
Entscheidungen – z. B. das Verbot, Krieg zu führen – und beinhaltet keine
positiven Verpflichtungen oder eine repressive Befehlsgewalt. Verwandtschaftsorganisationen wie
sie typischerweise in Subsahara-Afrika und Südostasien vorkommen, zeichnen
sich einerseits durch eine gemeinschaftliche Lebensweise aus, bei der
gemeinschaftlich gearbeitet und verwaltet wird, obwohl es eigentlich keinen
Gemeinbesitz gibt [31], anderseits durch eine
ausgeprägte politische und rechtliche Solidarität gegen aussen [32] sowie auch durch eine
autoritäre Machtstruktur, welche dem Chef einer Verwandtschaftslinie
umfassende Autorität einräumt. Diese Macht ist vergleichbar mit der
altrömischen patria potestas
und manifestiert sich am deutlichsten an der Gewalt der Onkel und Väter
gegenüber ihren Neffen und Söhnen. [33] Zwei grundlegende
strukturelle Charakteristika zeichnen diese Verwandtschaftssysteme aus: Einerseits,
dass sich Titel und Macht hierarchisch entlang einer einzigen
Abstammungslinie akkumulieren, andererseits, dass die Autorität auf die
darunterliegende Verwandtschaftslinie sich verringert, umso höher man sich in
der Verwandtschaftshierarchie befindet und je weniger direkt die
Verwandtschaftsbeziehung ist (Hypoarchie). So ist die Macht des Vaters über
seinen Sohn grösser als die Macht des Onkels über seinen Neffen, auch wenn
dieser dem ganzen Verwandtschaftssystem vorsteht (s. Abb. 2).
Dies hat zur Folge, dass Spaltungen entlang Verwandtschaftslinien sehr
wahrscheinlich werden, sich Despotismus nur auf den unteren Stufen des
Systems ausprägt und der Chef des Verwandtschaftssystems zur Vergrösserung
seiner Machtbasis auf nicht verwandtschaftlichen Grundlagen (Sklaven,
Klientelbeziehungen, Fremde) abstützen muss.
Abb. 2:
Organisationsweise von Verwandtschaftssystemen. Akkumulation von Macht: Wenn
a stirbt, wird der Vorsteher der Linie b Chef des Verwandtschaftssystems.
Hypoarchie: Die Macht von a auf die Verwandtschaftslinie von C ist geringer
als die Macht von C auf seine Verwandtschaftslinie Am wenigsten ausführlich werden
von Testart die Alters- und Generationsklassensysteme behandelt, die sich
häufig in Ostafrika finden. Sie scheinen insofern ähnlich wie primitive
Demokratien zu funktionieren, indem sie eine Generationsversammlung haben,
die über Krieg und Frieden entscheidet. Gleichzeitig kennen sie aber auch
altersklassenspezifische Funktionen, die nach einer bestimmten Anzahl Jahre
wieder abgegeben werden müssen (Tornay 2009). Auf staatliche Strukturen geht
Testart lediglich in Form des Despotismus ein, den er vor allem in Bezug auf
afrikanische Königreiche diskutiert. Von Despotismus spricht er, wenn eine
einzige Person alle politische, ökonomische und/oder religiöse Macht in sich
vereint und neben sich keinen weiteren Herrscher toleriert. Die Basis dieser
Macht liegt klar in der Welt II; wenn es nämlich keine Landaristokratie gibt,
durchdringt der Staat das ganze Wirtschaftssystem. Weiter ist der Despot
immer auf die Existenz einer Gruppe von Menschen angewiesen, die ihm
bedingungslos loyal ist und nicht mit ihm um die Herrschaft konkurriert (d. h.
oftmals nicht näher mit ihm verwandt ist). Die Macht des Königs hat jedoch
Grenzen, zumal keine administrative, territoriale Spezialisierung eintritt,
sondern ähnlich wie bei einem Verwandtschaftssystem regionale Stellvertreter
eingesetzt werden, die im ihnen zugewiesenen Gebiet umfassende fiskale, militärische und bürokratische Macht besitzen.
Der König behält zwar die unmittelbare Befehlsgewalt über das Gebiet um seine
Hauptstadt, das Verhältnis zwischen König und regionalen Stellvertretern ist
jedoch gleich wie bei Verwandtschaftssystemen durch Hypoarchie geprägt und
das ganze System dadurch anfällig für Zersplitterung (Testart 2005, p.
114-119). 2.4. Die Klassifikation von
Gesellschaften Ökonomisch und politisch teilt
Testart die Gesellschaften jeweils in drei Kategorien auf; in die Welten I
bis III, in minimale politische Organisationsweisen, Semi-Staaten und
Staaten. Aus der Welt I sind bisher nur minimale politische
Organisationsweisen bekannt, aus der Welt III nur Staaten. Es ergeben sich
für Testarts Klassifikation also fünf Klassen (Testart 2005, p. 128-129): 1. Gesellschaften
ohne Reichtum mit minimaler Organisation, sogenannte achrematische
Gesellschaften. 2. Gesellschaften
mit Reichtum aber ohne Grundbesitz mit politisch minimaler Organisation, die
sich oft plutokratisch organisieren sind und eine intrinsische Veranlagung zu
ostentativen Ausgaben haben. 3. Gesellschaften
mit Reichtum, ohne Grundbesitz aber mit einer semi-staatlichen Organisationsweise. 4. Gesellschaften
mit Reichtum, ohne Grundbesitz und mit einer staatlichen Organisationsform. 5. Gesellschaften
mit Reichtum, mit Grundbesitz und mit staatlicher Organisation. Innerhalb dieser Klassen
unterscheidet Testart unterschiedliche Typen, welche in sich jene Elemente
zusammenfassen, die charakteristisch für die jeweilige Gesellschaften sind
und den Schlüssel zum sozialen Verständnis dieser Gesellschaften darstellen.
Diese Typen können dabei in Reinform, vermischt oder zusammengesetzt vorkommen
(Testart 2005, p. 123-128). Tab. 3: Testarts
Klassifikationssystem 3. Megalithische
Gesellschaften Bereits anhand von neoevolutionären
Klassifikationssystemen wurde in prozessualistischen
Kreisen unter der Federführung von Colin Renfrew und Alain Gallay versucht, megalithische Gesellschaften zu
klassifizieren (Jeunesse 2016, p. 5-7). Erst Testarts Klassifikationssystem
vermochte der Diskussion um megalithische Gesellschaften eine neue Richtung
zu verleihen und wurde nur kurze Zeit nach seiner Erscheinung bereits von
Alain Gallay aufgegriffen. Gallay
betont insbesondere die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehung in seinen Überlegungen
zum Megalithismus. Zwar anerkennt er, dass auch in
ostentativen Plutokratien sowie primitiven Demokratien Megalithismus
entstehen kann und ordnet diese Gesellschaftssysteme den frühneolithischen
westeuropäischen respektive glockenbecherzeitlichen Megalithen zu (Gallay 2007, p. 345-346); die meisten archäologischen und
ethnologischen Beispiele bringt er jedoch mit semi-staatlichen
Verwandtschaftssystemen in Verbindung (Gallay 2006,
p. 45). Megalithen versteht er dabei als generellen Ausdruck von kompetitiven
sozialen Systemen für den Erwerb und die Aufrechterhaltung von politischer
Macht (Gallay 2017, p. 47). Besonders seine
Aussagen über Verwandtschaftssysteme sind jedoch nicht unproblematisch und
rühren massgeblich auch daher, dass Gallay Verwandtschaftsbeziehungen,
die in fast allen Gesellschaften der Welt eine bedeutsame Rolle spielen, mit
den von Testart klar definierten Verwandtschaftssystemen gleichsetzt
(Jeunesse 2016, p. 8-9). Obwohl Testart die megalithischen
Gesellschaften teils widersprüchlich in seine Klassifikation einordnet
(Jeunesse 2016, p. 9-10), gibt er klare Hinweise darauf, in welchen
gesellschaftlichen Zusammenhängen er die neolithischen Megalithen sieht; wie
die gesamte Ur- und Frühgeschichte Europas ordnet Testart das Neolithikum der
Welt II zu (Boulestin 2012; Testart 2012, p.
407-410). Im Gegensatz zur paläolithischen 'Kunst', die beispielsweise in
Form von weiblichen Statuetten oder Höhlenmalerein
eine diskrete, fast schon versteckte Form annimmt, hat der neolithische Megalithismus einen ostentativen Charakter: «Le sens du monumentalisme naquit avec le néolithique.» (Testart
2012, p. 439) Während frühneolithisch megalithische Anlagen im Nahen Osten
wichtig für die gemeinschaftliche Strukturierung des dörflichen Lebens gewesen
zu sein scheinen und daher eher Ausdruck einer primitiv demokratischen oder
verwandtschaftlichen politischen Organisationsform sind, waren die frühen
megalithischen Gräber Westeuropas vermutlich nur einer kleinen Personengruppe
zugänglich und wirken dadurch individualistischer. Als augenfällig streicht
Testart einerseits den ikonografischen und räumlichen Bezug dieser Megalithen
zum Wasser heraus, andererseits das Auftreten der frühen Megalithen in erst
gerade mit der Neolithisierung in Berührung gekommenen Gebieten (Testart
2004, p. 466-470). Testart schliesst daraus, dass es sich bei diesen um immer
noch in mesolithischer Tradition stehende ostentative Plutokratien mit
minimalen politischen Organisationsformen handeln könnte, die Megalithen
daher primär Ausdruck von Reichtum einer Person oder Personengruppe sind;
ähnlich wie für die Anfertigung eines Kanus auf den Trobriand-Inseln
und für den elitären Häuserbau auf Melanesien dürfte dabei die Bezahlung in
Form von Speis und Trank auf Festen zentral für die Errichtung der Megalithen
gewesen sein (Testart 2012, p. 440-444; Testart 2016, p. 335-336). Testart
weist dabei die These zurück, dass über den Verlauf des Neolithikums die
Megalithen einen demokratischeren Charakter annahmen, wie die Reduktion der Megalithgrösse und die Zunahme der Anzahl von Bestatteten
in megalithischen Monumenten suggeriert; da die materielle Voraussetzung für
die Errichtung eines Megalithen womöglich nur die
Ausrichtung eines Festes war, drücken die kleineren Megalithen eher den Repräsentationswillen
von neu zu Reichtum gekommenen Personen aus. Weiter streitet Testart einen
Zusammenhang zwischen Verwandtschaftssystemen und Megalithismus
mit Vehemenz ab; das Beispiel der madagassischen Merina
belege zwar die Möglichkeit des Auftretens von Megalithen in
Verwandtschaftssystemen, nirgends scheinen diese aber selbst Ausdruck von
verwandtschaftlicher Gesellschaftsstrukturierung zu sein, zumal sogar bei den
Merina die Zuweisung zu einem megalithischen
Grabmal nicht nach der Logik einer Abstammungslinie funktioniert, sondern
viel freier nach Familiengruppen gewählt werden kann (Testart 2012, p. 474;
Testart 2016, p. 334-335). Einen eleganten Vorschlag für die
Einordnung der megalithischen Gesellschaften, präsentiert Bruno Boulestin in einem unlängst erschienen Artikel (Boulestin 2016). Er propagiert darin eine Unterscheidung
zwischen Konstruktionen, die Megalithen von mehr als 15 Tonnen Gewicht
umfassen (Typ I), und solchen, die keine Megalithen aufweisen, die schwerer
als 10 bis 14 Tonnen sind (Typ II). Wie Boulestin
beobachtet, kommen erstere vor allem in Regionen vor, welche in überwiegender
Mehrheit mit ostentativen Plutokratien oder Staaten in Verbindung gebracht
werden. Dies ergibt insofern Sinn, als dass er als Voraussetzung für die Akquirierung
von genügend Arbeitskraft für die Errichtung derart grosser Megalithen
ostentative rituelle Feste (im Falle der ostentativen Plutokratien) oder
direkte politische Macht (im Falle der Staaten) annimmt. Eine Ausnahme
stellen für Boulestin die Merina
auf Madagaskar dar, die sowohl typische asiatische ostentativ-plutokratische
Charakteristika wie Reichtum als zentrales Prestige- und Machtmittel, als
auch typisch afrikanische Elemente der Verwandtschaftssysteme in sich
vereinen. Die Megalithen des Typs II finden sich dahingegen in fast allen
Gebieten der Welt und können bereits mit einigen dutzend
Personen transportiert und errichtet worden sein, weshalb eine Aussage über
die dahinterliegende Motivation und soziale Organisation auf Basis der
Megalithen nicht möglich ist (Boulestin 2016, p.
83-89). Wie die angeführten Beispiel
zeigen, ist eine klare, widerspruchslose Einteilung der megalithischen
Gesellschaften in eine von Testarts Klassen nicht möglich. Selbst Testarts
eigene Einordnung vermag das Phänomen nicht in seiner ganzen Bandbreite zu
beschreiben und erweist sich im Detail – wie beispielsweise in Bezug auf die Merina – als nicht ohne eine gewisse innere
Widersprüchlichkeit. Erklärungen für die Entstehung von Megalithismus
jedoch wieder hauptsächlich in kulturellen Traditionen zu suchen und
gesellschaftlich auf scheinbar fast universell gültige Aspekte wie
Monumentalitätswille zu beschränken, wie dies beispielsweise Christian
Jeunesse vorschlägt (Jeunesse 2016, p. 14), scheint indes zu kurz gegriffen;
dies würde die massgebliche gesellschaftliche Komponente – die das Phänomen
zweifellos hat – nahezu unberücksichtigt lassen. Die Stärke von Testarts
Klassifikationssystem besteht gerade darin, das systematische Nachdenken und
Sprechen über Gesellschaften zu ermöglichen. So stellt es gewissermassen
einen ethnologisch fundierten Rahmen dar, in dem man sich gesellschaftliche
Erscheinungsformen in ihrer ganzen Vielfalt überhaupt vorstellen kann. Gerade
die dargelegten Beispiele beweisen dies deutlich; es wäre wohl schwierig,
sich jenseits von Alain Testarts Klassifikation einen derart breit
abgestützten und geordneten wissenschaftlichen Diskurs vorzustellen, der
nicht bereits an begrifflichen Unstimmigkeiten scheitern würde. Testarts
Klassifikationssystem hat daher auch in Bezug auf die Frage nach
megalithischen Gesellschaften eine klare Berechtigung. Im Weiteren ist es
nicht weiter erstaunlich, dass die Anwendung von Testarts Klassifikation im Detail
nicht ohne innere Widersprüche bleibt; sowohl in Bezug auf Gesellschaft, als
auch in Bezug auf Megalithismus weisen die
untersuchten Phänomene einen derart hohen Grad an Vielfalt und Komplexität
auf, dass ein einfaches Klassifikationssystem zwangsläufig zu kurz greifen
muss, auch wenn es im Grossen und Ganzen richtig bleibt. Was vermag Testarts
Klassifikation also zur Diskussion über den neolithischen Megalithismus
beizutragen? Wie die paraphrasierten Autoren übereinstimmend ausführen,
scheint es wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen frühem Megalithismus, einer plutokratischen Gesellschaftsordnung
und ostentativen Praktiken besteht. Gerade hier könnte sich eine Verbindung
mit dem deutschsprachigen Forschungsdiskurs als besonders fruchtbar erweisen;
im deutschsprachigen Raum häufig aufgegriffene Konzepte wie Monumentalisierung der Landschaft (Vgl.
Hinz et al. 2019) oder Assmanns kulturelles Gedächtnis (Vgl. Furholt und Müller 2011; Wunderlich 2019) scheinen in
keinem prinzipiellen Widerspruch zu Testarts gesellschaftlichen
Klassifizierung zu stehen und tragen in sich womöglich das Potenzial, eine
bedeutende kulturelle respektive sozialgeografische Perspektive zum weiteren
Verständnis des megalithischen Phänomens beizusteuern. Boulestin B. (2014) 'Une lecture de
“Avant l’histoire”', L’Homme, 212, p. 37-55. Boulestin B. (2016) 'Qu’est-ce que le
mégalithisme ?' in Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin
B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 57-98. Furholt M., Müller J. (2011), 'The
earliest monuments in Europe – architecture and social structures (5000 –
3000 BC)' in Furholt M., Lüth
F., Müller J. (eds.) Megaliths and Identities: Early Monuments and
Neolithic Societies from the Atlantic to the Baltic. Frühe Monumentalität und soziale
Differenzierung 1. Bonn: Habelt, p. 15-34. Gallay A. (2006), Les Socitétés Mégalithiques. Pouvoir des hommes, mémoire des morts. Collection Le savoir suisse 37. Lausanne: Presses polytechniques et universitaires
romandes. Gallay A. (2007), 'Cistes de type Chamblandes:
15 ans recherches, quels progrès?' in Moinat P.,
Chambon S. (eds.), Les cistes de Chamblandes et la place des coffres dans les pratiques
funéraires du Néolithique moyen occidental. Actes du colloque de
Lausanne, 12 et 13 mai 2006. Cahiers d'archéologie romande 110. Lausanne,
Paris: Cahiers d'archéologie romande. Gallay A. (2016), 'Quelles interogations pour les études mégalithiques ?' in
Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés:
Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 19-56. Hinz M., Müller J., Wunderlich M.
(2019),
'The Monumentalism of
European Landscapes' in Müller J., Hinz M.,
Wunderlich M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality
and Social Differentation
in Neolithic Europe. Frühe Monumentalität und
soziale Differenzierung 18. Bonn: Habelt, p. 21-24. Jeunesse C. (2016), 'De l’Île de
Pâques aux mégalithes du Morbihan. Un demi-siècle de confrontation entre
ethnologie et archéologie autour du mégalithisme' in Jeunesse C., Le Roux P.,
Boulestin B. (eds.), Mégalithismes
vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 3-18. Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes
vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress
Archaeology. Müller J., Hinz M., Wunderlich M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early
Monumentality and Social Differentation in
Neolithic Europe. Frühe Monumentalität
und soziale Differenzierung
18. Bonn: Habelt. Service E. R. (1965), Primitive
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York: Random House. Steward J. H. (1955), Theory
of Culture Change. The Methodology of Multilinear Evolution. Champaign: University of Illinois Press. Testart A. (2005), Elément de
classification des sociétés. Paris: Editions
Errance. Testart A. (2012), Avant
l'histoire : l'évolution des sociétés, de Lascaux à Carnac. Paris: Gallimard. Testart A. (2014), 'Anthropology of
the Megalith-Errecting Societies' in Besse M. (ed.) Around the Petit-Chasseur Site in Sion
(Valais, Switzerland) and New Approaches to the Bell Beaker Culture.
Proceedings of the International Conference Held at Sion (Switzerland)
October 27th – 30th, 2011. Oxford: Archaeopress Archaeology, p.
331-336. Tornay P. (2005), 'Alain Testart, Éléments de classification des sociétés. Editions Errance, 2005,
156 pages', Journal des africanistes, 79, p.
387-400. Wunderlich M. (2019), 'Social
Implications of Megalithic Construction – A Case Study from Nagaland and
Northern Germany' in Müller J., Hinz M., Wunderlich
M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality and Social Differentation in Neolithic
Europe.
Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung 18. Bonn: Habelt, p.
1133-1152. Abb. 1: Hergestellt von T. Geitlinger,
nach Testart 2005, p. 46. Abb. 2: Nach Testart 2005, p. 111.
[1] Megalithen (von μέγας
= gross und λίθος
= Stein) bezeichnen aus architektonischer Sicht aus grossen,
teils aus weiten Entfernungen hertransportierten Steinen errichtete Monumente
(insb. Dolmen und Menhire), die ohne maschinelle Hilfe errichtet wurden (Gallay 2006, p. 10-11). [2] Für Testart ist die Unterscheidung
zwischen Gesellschaft und Kultur entscheidend: Gesellschaft ist keine
menschliche Gemeinschaft, sondern stellt lediglich eine Gesamtheit von
Institutionen und Strukturen dar, mit der sich speziell die Soziologie
beschäftigt. Kultur umfasst im Gegensatz dazu die Art und Weise, wie diese
Strukturen in der Gesellschaft (z. B. in Form von Sprache oder Tradition)
verwurzelt sind und sinngebend symbolisch wiedergegeben werden (Testart 2005,
p. 122-123). [3] Oder auf Basis dessen, was wir als
Natur der Dinge wahrnehmen (Testart 2005, p. 9). [4] Man würde eine Echse und eine Maus
auch nicht in die gleiche biologische Klasse einordnen, nur weil sie ungefähr
gleich gross sind (Testart 2005, p. 13). [5] Gemäss Testart jene Aspekte sozialer Verhältnisse, die eine gewisse Materialität implizieren und durch Nutzgüter realisiert werden (Testart 2005, p. 25). [6] Gemäss Testart die Macht der Macht, die Macht des Befehlens und des Nicht-Befohlen-Werdens (Testart 2005, p. 81). [7]
Testart spricht in diesem Zusammenhang von propriété
fundière oder fondière
wie von fond (Boden) oder Latifundium (Grundstück)
(Testart 2005, p. 27) . [8] Aristocratie foncière (Testart
2005, p. 26). [9] Rente foncière (Testart
2005, p. 26). [10]Dorfgemeinschaften, Abstammungsgemeinschaften, Könige o. ä. (Testart 2005, p. 27). [11] Testart umschreibt dies mit dem Begriff 'Usufondée' (Testart 2012, p. 408). [12] Sklaven gehören nicht zur Gemeinschaft, haben kein Recht auf Land, Titel, die Resultate ihrer Arbeit und Familie. Alle Rechte der Sklaven übernehmen ihre Besitzer (Testart 2005, p. 28). [13] Nach Testarts Terminologie: Achrematische Gesellschaften (Testart 2005, p. 26). [14] Nach Testart: Prix de la fiancée. Die Frau wird dabei nicht gekauft, sondern nur die Rechte an ihr (Testart 2005, p. 30). [15] Nach Testart: Prix du sang resp. Wergeld. Kompensation an die Eltern, falls eines ihrer Kinder umgebracht wird (Testart 2005, p. 30f.). [16]
Nacht Testart: Amendes. Für Ehebruch, Verführung,
Tabubruch, Inzest usw. (Testart 2005, p. 31). [17] Nach Testart: Ploutocraties
ostentatoires (Testart 2005, p. 46). [18] Nach Testart: Dons et
distributions (Testart 2005, p. 49). [19] Testart spricht in diesem Zusammenhang von den melanesischen 'rubbish men' als besonders drastisches Beispiel für die geringe soziale Wertschätzung der ärmeren Schicht (Testart 2005, p. 47f.). [20] Nach Testart:
Le dot (Testart 2005, p. 62). [21] B
wie bride price oder bridewealth (Testart 2005, p.
62). [22] C wie combinaison (Testart 2005, p. 62). [23] Es scheint dabei eine klare Korrelation zwischen den Gesellschaften zu geben, die Schuldsklaverei zulassen, und der Heiratspraxis des Modus B (Testart 2005, p. 64-66). [24] Wenn z. B. der Schwager einer Person dessen Schwester heiratet (Testart 2005, p. 69). [25] Simples inégalités (Testart
2005, p. 66) [26] Relations en dépendances entre maître et ésclaves (Testart 2005, p. 66): [27]
So haben die Yurok Nordkaliforniens beispielsweise die wenig beneidenswerte
soziale Kategorie der "Halbmänner" erfunden, d.h. jene Männer, die
nur die Hälfte des Brautpreises zahlen konnten und dauerhaft an das Haus und
die Arbeit ihres Schwiegervaters gebunden sind. Bei den Nupe
in Nigeria war es üblich, jüngere Söhne oder sich selbst zu verpfänden, um
die Heiratsentschädigung des ältesten Sohnes zu erhalten. (Testart 2005, p. 62-63). [28] Nach Testart: Démocratie
primitive (Testart 2005, p. 106-108). [29] Nach Testart: Organisation
lignagère (Testart 2005, p. 109-113). [30] Nach Testart: Classes d'âge et
classes générationnelles (Testart 2005, p. 113). [31] Es ist immer klar, wer was besitzt, und wer was vererbt bekommt (Testart 2005, p. 109). [32] Z. b. in Bezug auf die Blutrachte (Testart 2005, p. 109). [33] Im Falle des familiären Despotismus: Will ein Onkel seinen Neffen aus finanziellen Gründen verkaufen, kann er das (Testart 2005, p. 110). |
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