Was sind megalithische Gesellschaften?

Testarts Klassifikationssystem und die Frage nach der Verortung der megalithischen Gesellschaften

Timo Geitlinger

1 Einleitung . 1

2 Testarts Klassifikationssystem.. 1
2.1 Das Wesen von Testarts Klassifikation. 1
2.2 Testarts wirtschaftliche Klassifikation
2.3 Testarts politische Klassifikation
2.4 Die Klassifikation von Gesellschaften

3 Megalithische Gesellschaften. 1

4 Schlusswort und Ausblick

5 Provisorisches Literaturverzeichnis

 

6 Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Megalithen [1]  treten weder in einem geografisch einheitlichen Raum noch in einem zeitlich begrenzten Rahmen auf, sondern sind auf fast allen Kontinenten und mindestens seit den letzten 6'500 Jahren der Menschheitsgeschichte fassbar (Gallay 2004, p. 9). Die Vermutung liegt daher nahe, dass Megalithismus als Phänomen weniger als distinkte kulturelle Erscheinung erklärt werden kann, die sich von einem Ausgangspunkt kontinuierlich über die Welt verbreitet hat, sondern viel mehr Ausdruck von ähnlichen sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen ist, die unabhängig von Zeit und Raum in verschiedenen Gesellschaften herrschten.

Ein geeigneter Rahmen, um megalithische Gesellschaften miteinander in Beziehung zu setzen und über ihre strukturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten nachzudenken, bietet Alain Testarts einflussreiche Gesellschaftsklassifikation. Testart entwickelte diese anfangs der 2000er-Jahre in seinem Werk Eléments de classification des sociétés (Testart 2005) in klarer Abgrenzung zu gängigen, neoevolutionären Klassifikationsschemata und führte seine Überlegungen bis zu seinem Tod im Jahr 2013 in verschiedenen Beiträgen aus (Testart 2012; Testart 2014). Zwar wurde Testarts Klassifikation von menschlichen Gesellschaften in der Diskussion um Megalithen immer wieder aufgegriffen und produktiv angewendet, doch beschränkten sich diesbezügliche Beiträge meist auf den frankophonen Forschungsdiskurs und wurden im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum kaum rezipiert. So kommt es, dass im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten und 2019 erschienenen 1'200 seitigen Tagungsband der Konferenz Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality and Social Differentiation in Neolithic Europe (Müller et al. 2019) Alain Testart nur dreimal zitiert wird, kein einziges Mal aber im Kontext seiner Klassifikation von Gesellschaften. In einem vergleichbaren 294 seitigen Sammelband (Jeunesse et al. 2016), der im Anschluss an einen Table Ronde in Strassburg im Jahr 2016 publiziert und unter anderem vom Centre national de la recherche scientifique gefördert wurde, entfallen auf Testart 294 namentliche Erwähnungen.

Testarts Klassifikationssystem und mögliche Rückschlüsse, die es auf megalithische Gesellschaften zulässt, werden in diesem Artikel ausführlich beleuchtet. Dazu wird in einem ersten Kapitel auf Testarts Klassifikationssystem eingegangen, wobei für die französische Terminologie erstmals quellennahe deutschsprachige Übersetzungsversuche vorgeschlagen werden. In einem zweiten Kapitel sollen die bisherigen Anwendungsversuche des Klassifikationssystems auf megalithische Gesellschaften kritisch rezipiert werden.

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2. Testarts Klassifikationssystem

2. 1. Das Wesen von Testarts Klassifikation

Testarts Klassifikation von Gesellschaften [2] ist eine Ordnung auf Basis der Natur [3] der umschriebenen Phänomene. Als solche ist sie nicht apriori Ausdruck von Evolution – also auch nicht wie biologische und linguistische Klassifikation prinzipiell phylogenetisch. Erst wenn sie mit zeitlichen und historischen Begebenheiten in Verknüpfung gebracht wird, kann sie als Grundlage und Mittel dienen, um über Evolution nachzudenken und historische Prozesse zu verstehen (Testart 2005, p. 10-11). Diese klare Unterscheidung ist für Testarts Denken insofern bedeutend, als dass aus ihr einerseits seine tieferliegende Motivation für die Klassifikation ersichtlich wird; offensichtlich schwebte ihm ein ganzes Forschungsprogramm vor, in dem er sich auf Basis der Klassifikation der umfassenden archäo-ethnologischen Untersuchung der Evolution von Gesellschaften widmen wollte, das aber mit Avant l'Histoire (Testart 2012) vermutlich nur partiell seinen Abschluss fand (Testart 2005, p. 11).

Andererseits schwingt darin auch bereits deutlich eine erste Kritik an neoevolutionären Klassifikationssystemen mit, welche diese klare Unterscheidung nicht machen: Neoevolutionisten gehen in ihrer Klassifikation von einer inhärenten historisch-evolutionären Komponente aus, dass also alle Gesellschaften zwangsläufig und logischerweise die verschiedenen Stufen der Klassifikation durchlaufen oder durchlaufen haben. Zwar gibt es mehrere neoevolutionäre Klassifikationssysteme – das bekannteste ist dabei wohl die Unterteilung von Elman Service in Hordengesellschaft (Bande), Stammesgesellschaft (Tribe), Häuptlingstum (Chiefdom) und Staat (State) (Service 1965) –, doch weisen sie alle grundlegende gemeinsame Charakteristika auf; alle Klassifikationen erkennen die Produktionsverhältnisse und Populationsdichte als zentrale Elemente der Klassifikation an und klassifizieren die Gesellschaften nach verschiedenen 'Integrationsniveaus'. Eine Zunahme der inneren Integration im Zuge demografischer und wirtschaftlicher Veränderung geht dabei mit einem Anstieg der Komplexität und Hierarchisierung von Gesellschaften einher (Service 1965; Steward 1955; Testart 2012, p. 52-57).

Testarts Kritik setzt genau an diesem Punkt an: Integration wird als schwammige Worthülse zurückgewiesen, die von den Neoevolutionisten ohne weitere Begriffserklärung verwendet wird und einen bisher nicht belegten Zusammenhang zwischen sozialer Organisationsweise und Dichte des sozialen Netzes suggeriert. Und auch eine Reduktion des Begriffs Integration auf die Gruppengrösse wäre fatal, zumal dann morphologische Kriterien die Grundlage der Klassifikation darstellten [4]. Indem sich diese Klassifikationen auf Integrationsniveaus beschränken, ignorieren sie alle grundlegenden strukturellen soziologischen Einheiten von Gesellschaften wie Wirtschaft, Politik oder Technologie und vermögen dadurch niemals die Komplexität von gesellschaftlichen Prozessen wiederzugeben. Weiter stellen die neoevolutionären Klassifikationen in Testarts Verständnis keine evolutionäre Gliederung, sondern eine hierarchische Klassifizierung dar; da nur ethnologische und keine historischen sowie archäologischen Quellen einbezogen werden (Testart 2012, p. 58-59), können sie offensichtlich auch keine realhistorischen Begebenheiten darstellen. Ansonsten müssten die antiken Staaten Griechenlands beispielsweise jünger eingeordnet werden als die Wildbeuter der Nord-Westküste Kanadas (Testart 2005, p. 16-17).

Komplexität und Hierarchisierung implizieren zudem ein völlig falsches Verständnis von Evolution. Viele scheinbar primitive Gesellschaften sind in Bezug auf ihre soziale Struktur, Ideologien und politischen Kontroversen äusserst vielfältig, weshalb Evolution nicht einfach als Entwicklung von primitiv nach komplex verstanden werden darf. Dieses fatale Missverständnis fusst dabei auf mehreren grundlegenden Irrtümern; wir tendieren dazu, das als am primitivsten zu klassifizieren, was am weitesten von unserer eigenen Lebensweise entfernt ist. Soziale Beziehungen funktionieren im Gegensatz zu Technologie jedoch nicht kumulativ und sammeln sich im Verlauf der Zeit nicht automatisch an. Zudem muss man immer eine doppelte Überlieferungslücke im archäologischen und historischen Quellenmaterial berücksichtigen, da soziale Handlungen nur selten Niederschlag im Befundbild finden und die meisten nicht staatlichen Gesellschaften auch kein Schriftquellen hinterlassen haben (Testart 2005, p. 19f.; Testart 2012, p. 71-74).

Für seine Klassifikation schliesst Testart daraus, dass sie sich gleich wie die biologische Klassifikation von Tieren und Pflanzen auf die Struktur des zu klassifizierenden Gegenstands (Gesellschaft) beziehen muss, aber im Gegensatz zur biologischen Klassifikation von keiner immanenten Komplexifizierung ausgehen darf. Als zentrale strukturelle Elemente von Gesellschaften stützt er sich dabei als Klassifikationskriterien vordergründig auf Wirtschaft [5] und Politik [6], zweitrangig auf soziale Organisationsformen ab.

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2.2. Testarts wirtschaftliche Klassifikation

Das uns geläufigste Wirtschaftssystem ist jenes, bei dem die Produktionsmittel im Privatbesitz sind. Es wird von Testart als Welt III bezeichnet. Im vorindustriellen Zeitalter war das wichtigste Produktionsmittel der Boden [7]. In diesen agrarischen Gesellschaften lassen sich drei grundlegende Merkmale festhalten; erstens existiert eine Klasse, die den Boden besitzt [8], die, zweitens, den Boden gegen eine Bodenrente [9] verpachtet und zwar, drittens, an eine Klasse, die keinen Boden besitzt und ausgebeutet wird. Im marxistischen Sinn existiert also ein inhärenter Widerspruch zwischen jenen, die Produktionsmittel besitzen, und jenen, die dies nicht tun (Testart 2005, p. 26).

Wie uns aber ethnografische Beispiele aus dem präkolonialen Afrika zeigen, existieren auch Gesellschaften, die keinen Besitz auf Boden, sondern nur auf die Resultate der eigenen Arbeit kennen. Das Land wird von den übergeordneten politischen Strukturen [10] verwaltet und nach Bedarf an die Mitglieder der Gesellschaft verteilt. Es ist nur so lange im Besitz einer Person, wie es von dieser Person bewirtschaftet wird. [11] Ein Bauer ohne Land existiert daher nicht und Renten können nur durch die Abhängigkeit von Menschen – durch die Verpfändung von Arbeit oder Sklaverei [12] – erzielt werden. Testart bezeichnet dieses Szenario als Welt II (Testart 2005, p. 28-29).

Daneben gibt es aber auch Gesellschaften, die keinen sozial nützlichen Reichtum kennen [13]. Der Unterschied zwischen diesen von Testart unter dem Begriff Welt I zusammengefassten Gesellschaften und jenen der Welt II liegt massgeblich in der techno-ökonomischen Produktionsweise, im Speziellen im Vorhanden- und Abwesendsein von Gebrauchsgüterlagerung. So finden sich in der Welt I Gesellschaften, die als Jäger und Sammler respektive als Gartenbauer ihre Subsistenz auf nicht lagerbare Erzeugnissen ausgelegt haben. Das Jäger-Sammlertum ist jedoch nicht ein ausschliessendes Kriterium für die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zur Welt I, zumal auch Wild- und Feldbeuter – wie beispielsweise die Nord-West-Küsten Gruppen Kanadas – Subsistenzmittel lagern konnten.

Da sie für die Frage nach megalithischen Gesellschaften besonders zentral ist, werde ich mich in den folgenden Ausführungen massgeblich auf die Welt II beschränken. Ein grundlegender Unterschied der drei Welten wird deutlich sichtbar, wenn der Begriff des Reichtums eingeführt wird. Reichtum bezeichnet eine Ansammlung von materiellen und immateriellen Gütern, die einen Gebrauchswert haben und sich eignen, getauscht zu werden. Güter können auch Rechte an anderen Menschen oder an Dingen sein (Testart 2005, p. 33). Wirtschaftliche Macht geht also immer vom Besitz von Gütern aus (Testart 2005, p. 40). Reichtum wird erreicht, wenn alle Bedürfnisse gedeckt und zudem alle wünschenswerten Dinge, die darüber hinaus vorstellbar sind, erworben werden können. Während Reichtum in der Welt I nicht existiert, führt er in der Welt III dazu, dass mehr Land gekauft werden kann, was in grösserer Bodenrente, mehr Reichtum und – indem man über mehr Menschen wirtschaftlich verfügt – in Akkumulation von Macht resultiert (Testart 2005, p. 28-29). In der Welt II existiert aber kein Landbesitz, typischerweise auch keine Lohnarbeit, da die Subsistenz durch die eigene Arbeit gedeckt wird. Reichtum ist also weder überlebensnotwendig, noch kann er produktiv reinvestiert werden (Testart 2005, p. 28-29; ebd., p. 41).

Was kann man in der Welt II aber nun mit Reichtum tun? Einerseits kann Reichtum dazu verwendet werden, soziale Verpflichtungen zu begleichen. Typischerweise gibt es in der Welt II drei Arten von solchen Zahlungen: Brautgeld im Zuge der Heirat [14], Blutpreis respektive Wergeld [15] oder Strafzahlungen [16]. Diese Verpflichtungen werden meistens in Form von Geld, also nach Testarts Verständnis mit einem standardisierten Zahlungsmittel mit gegenseitig anerkanntem Wert (Testart 2005, p. 28), getätigt. Verschuldung ist dementsprechend in der Welt II ein besonders grosses Problem, da soziale Verpflichtungen bei fehlendem Reichtum nicht mehr beglichen werden können und dies sogar im schlimmsten Fall zur Versklavung der verschuldeten Person führen kann (Testart 2005, p. 32; ebd., p. 42-43). Da Sklaverei sowohl Ausdruck als auch Mittel zur Ansammlung von Reichtum ist, erstaunt es in diesem Sinne kaum, dass Sklaverei in fast allen Gesellschaften der Welt II auftritt (Testart 2005, p. 43).

Da es nur in einem begrenzten Umfang Möglichkeiten gibt, den Reichtum produktiv zu investieren, erscheint es nach Begleichung der sozialen Verpflichtungen in den Gesellschaften der Welt II hauptsächlich erstrebenswert, Reichtum auf eine sozial anerkannte Art und Weise auszugeben, so dass der Gebende längerfristig dafür soziale Wertschätzung erfährt, der Reichtum also in Prestige umgewandelt wird (s. Abb. 1). Existiert für diesen Zweck ein formelles System, spricht man im Kontext der Welt II von ostentativen Plutokratien. [17] Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, wie Reichtum ostentativ in Prestige umgewandelt werden kann; durch die Spende oder Verteilung von Reichtum [18], durch den Erwerb von Gebrauchsgütern oder durch Zahlungen, die rein verschwenderischen Zwecken dienen. Solche ostentative Praktiken können vielseitige Ausprägungsformen annehmen (Vgl. Tab. 1).

 

Abb. 1: Gesellschaftliche Verwendung von Reichtum in der Welt II (links) und der Welt III (rechts).

 

Tab. 1: Beispiele für ostentative Praktiken der Welt II (Testart 2005, p. 49-58).

 

Aus den Gesellschaften der Welt II leitet Testart fünf inhärente Tendenzen ab; erstens, dass eine soziale Differenzierung nach Reichtum entsteht, die zweitens in einer gesellschaftlichen Stratifizierung resultiert, bestehend aus der reichen Elite, welche durch ihren Reichtum die meiste politische Macht ausübt und ostentative Ausgaben tätigen kann, der gemeinen Bevölkerung, die ihre sozialen Verpflichtungen nachkommen kann, und jenen, die zu wenig besitzen und verschuldet sind. [19] Hierbei von egalitären Gesellschaften zu sprechen, ist aus Sicht von Testart deshalb völlig absurd (Testart 2012, p. 413-416). Drittens werden die armen Bevölkerungsschichten finanziell immer weiter abhängig gemacht; dies geht oft mit der Entstehung von Klientelbeziehungen innerhalb von diesen Gesellschaften einher (Testart 2012, p. 413). Ohne andere politische Mechanismen ist, viertens, deshalb der Reichste der Mächtigste; diese Gesellschaften sind also spontan plutokratisch. Besonders bedeutend ist in diesem Zusammenhang die Figur des Big Man, als der Person, welche in diesem System Macht besitzt, weil sie reich ist (Testart 2005, p. 44-45). Da, fünftens, der Reichtum nicht produktiv ausgegeben werden kann, existiert eine inhärente Tendenz zu ostentativen Gaben (Testart 2005, p. 47-48).

Ein weiterer klassifizierender ökonomischer Aspekt der Gesellschaften der Welt II umfasst die Heiratssysteme. Besonders zentral ist dabei der Brautpreis. Es kann nach Gesellschaften unterschieden werden, die einen Brautpreis zahlen, ohne dass sie eine Mitgift [20] bekommen (Modus B [21]), und jenen, die zwar einen Brautpreis zahlen, aber eine Mitgift zurückbekommen (Modus C [22]). Diese kann substanziell kleiner oder grösser oder gleich wie der Brautpreis ausfallen. Besonders problematisch ist der Brautpreis ohne Mitgift, da er unter Umständen eine Verschuldung und sogar eine Versklavung des Gatten zur Folge hat. [23] Eine Verschuldung und Versklavung kann nur umgangen werden, wenn symmetrisch geheiratet wird [24], der Brautpreis vor der Heirat gezahlt werden muss oder eine Mitgift zurückkommt, mit der die Schulden beglichen werden können (Modus C). Da die Frauen ganz von ihren Vätern losgekauft werden, sind Frauen bei Heiratssystemen des Modus C tendenziell autonomer. Indem keine Schulden oder Knechtbeziehungen entstehen, existiert eine kleinere Ausbeutung der ärmeren Bevölkerungsschichten. Im Gegensatz zum Modus B sind Klientelbeziehungen dadurch wichtiger als klassische Herr-Knecht-Beziehungen, was zudem auch den grösseren Fokus jener Gesellschaften auf den Wert der ostentativen Gabe erklärt. All dies verbindet Testart grundsätzlich mit einer demokratischeren Gesellschaftsorientierung (Testart 2005, p. 69).

Indem beim Modus B Menschen durch Schulden versklavt werden können, wird eine indirekte ökonomischen Ungleichheit [25] in eine direkte Abhängigkeit zwischen Herr und Sklave transformiert [26]. Dass die Vermögenden nun die Möglichkeit haben, die Verschuldeten formal frei zu lassen, schafft eine ständige Abhängigkeit, welche die Vermögenden zu Herrschern macht, und sichert dem Vermögenden die ständige, über die Verpflichtung gegenüber einer Gemeinschaft hinausgehende Loyalität der verschuldeten Person. Typischerweise sind genau diese Systeme mit ausgeprägten Herr-Knecht-Beziehungen die Vorläufer des Despotismus und despotischer Staaten [27].

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2. 3. Testarts politische Klassifikation

Als zweites zentrales Charakteristikum stützt Testart sich in seiner Klassifikation auf Politik. Was Testart unter Politik versteht, wird am besten aufgrund seiner Ausführungen zum Staat verstanden. Ihm zufolge braucht ein Staat nicht dringend ein Territorium, denn Politik bezieht sich immer auf Menschen, das Territorium umschreibt lediglich die Gemeinschaften eines bestimmten Gebiets, über die Macht ausgeübt wird. Auch Webers Definition des Staates als Struktur mit einzigem legitimen Gewaltmonopol weist Testart zurück. Der Staat muss nämlich nicht das Gewaltmonopol besitzen, sondern lediglich genug Gewalt, damit sich keines seiner Mitglieder ihm widersetzen kann und diese für alle gleichsam bindend ist. Ein wichtiges Charakteristikum des Staates ist dabei, dass diese Gewalt separat von der Zivilgesellschaft organisiert, exklusiv vom Staat kontrolliert und nur für ihn zugänglich ist. Damit dies gewährleistet werden kann, muss die Souveränität, also die höchste Macht des Staates, einzig und unteilbar sein (Testart 2005, p. 82-86).

Bei nicht staatlichen Gesellschaften ist dies genau umgekehrt: Weil niemand eine Macht hat, die grösser ist, als jene aller anderen Teile der Gesellschaft, unterteilt sich die Gesellschaft bei Unstimmigkeiten. In segmentären Gesellschaften kann diese Teilung soweit fortschreiten, dass unterhalb der Macht jedes einzelnen Segments keine grössere übergeordnete Macht mehr existiert. Daraus folgt auch, dass in nicht-staatlichen Gesellschaften – von Testart auch minimale Organisationsformen genannt – einstimmige Entscheidungen getroffen werden müssen, da sonst die Gesellschaft in ihre Unterteile zerfällt (Testart 2005, p. 86-88).

Neben Staat und Nicht-Staat gibt es tatsächlich aber auch noch eine Zwischenform, den sogenannten Semi-Staat. Typische Beispiele dafür sind Gesellschaften, die sich entlang einer Abstammungslinie gliedern: Sie sind zwar unterteilbar aber nur in eine endliche Anzahl und auf eine regelmässige Art und Weise. Zwar kennen diese Semi-Staaten im Gegensatz zu Staaten keine separat organisierte Gewalt, typischerweise gibt es aber in Semi-Staaten Mechanismen – wie z. B. ein Rat –, der verhindert, dass Gewalt willkürlich ausgeübt wird (Testart 2005, p. 88-90).

Um nun die verschiedenen politischen Organisationsformen nicht nur ex negativo aus dem Staat heraus zu definieren, ist es notwendig, sich zu fragen, wer in den jeweiligen Organisationsformen die politische Macht trägt; während klassischerweise davon ausgegangen wird, dass Könige Staaten vorstehen, haben nach der neoevolutionären Tradition Chefs die leitenden Funktionen der übrigen Organisationsformen inne. Was ein Chef aus politischer Sicht genau ausmacht, wird jedoch nur selten definiert, lässt sich aber grundsätzlich an vier Elementen festmachen: Chefs haben meistens einen Titel, Funktionen und Missionen, Macht samt Attributen und Mitteln, mit denen sie ausgestattet sind. Während wir uns aus unserer heutigen, staatlich geprägten Perspektive gewohnt sind, dass unsere Chefs all diese Elemente in sich vereinen und eine imperative Gewalt ausüben, die sie vom Staat delegiert bekommen, deuten ethnografische Vergleiche darauf hin, dass die Chefs aller nicht-staatlichen Organisationsformen durch die Abwesenheit eines oder mehrerer dieser Elemente geprägt ist (vgl. Tab. 2) (Testart 2005, p. 91-96).

 

Tab. 2: Beispiele für Chefs nicht staatlicher Organisationsformen (Testart 2005, p. 92-104)

 

In minimalen Organisationsformen hat niemand die Macht, Krieg auszurufen oder Recht zu sprechen. Es handelt sich dabei entweder um cheflose Gesellschaften oder Gruppen mit Chefs ohne Macht oder ohne respektive mit minimalen Funktionen (vgl. Tab. 2); sie nehmen beispielsweise repräsentative Funktionen wahr, helfen mittellosen Gesellschaftsmitgliedern, stiften Frieden, haben aber keine fest definierte Aufgabe und werden aufgrund ihres Reichtums oder Prestiges zu Chefs (Testart 2012, p. 452).

Unter den Semi-Staaten unterscheidet Testart drei hauptsächliche Organisationsformen: Primitive Demokratien [28], Verwandtschaftsorganisationen [29] und Alters- und Generationsklassensysteme [30]. Primitive Demokratien verfügen über eine direkte oder repräsentative Volksversammlung, die über Krieg und Frieden entscheidet und gegen deren Beschluss sich kein Gesellschaftsmitglied widersetzen kann. Mit der Organisation des Kriegsunternehmens wird dann ein Repräsentant beauftragt, der aber den Krieg aus seinen eigenen Mitteln ermöglichen muss (vgl. Tab. 2, Chef ohne Mittel). Diese Organisationsformen, die typischerweise mit den nordamerikanischen Iroquois in Verbindung gebracht werden, weisen zwar staatsähnliche Züge auf; indem sie aber die Gewalt weder separat organisieren – eine Wehrpflicht existiert nicht –, noch die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft ständig vorbeugen können – weshalb die Volksversammlung auch einstimmige Entscheidungen treffen muss – unterscheiden sie sich von staatlichen Konstrukten deutlich. Die Volksversammlung ist zwar souverän, diese Souveränität beschränkt sich aber auf negative, verbietende Entscheidungen – z. B. das Verbot, Krieg zu führen – und beinhaltet keine positiven Verpflichtungen oder eine repressive Befehlsgewalt.

Verwandtschaftsorganisationen wie sie typischerweise in Subsahara-Afrika und Südostasien vorkommen, zeichnen sich einerseits durch eine gemeinschaftliche Lebensweise aus, bei der gemeinschaftlich gearbeitet und verwaltet wird, obwohl es eigentlich keinen Gemeinbesitz gibt [31], anderseits durch eine ausgeprägte politische und rechtliche Solidarität gegen aussen [32] sowie auch durch eine autoritäre Machtstruktur, welche dem Chef einer Verwandtschaftslinie umfassende Autorität einräumt. Diese Macht ist vergleichbar mit der altrömischen patria potestas und manifestiert sich am deutlichsten an der Gewalt der Onkel und Väter gegenüber ihren Neffen und Söhnen. [33] Zwei grundlegende strukturelle Charakteristika zeichnen diese Verwandtschaftssysteme aus: Einerseits, dass sich Titel und Macht hierarchisch entlang einer einzigen Abstammungslinie akkumulieren, andererseits, dass die Autorität auf die darunterliegende Verwandtschaftslinie sich verringert, umso höher man sich in der Verwandtschaftshierarchie befindet und je weniger direkt die Verwandtschaftsbeziehung ist (Hypoarchie). So ist die Macht des Vaters über seinen Sohn grösser als die Macht des Onkels über seinen Neffen, auch wenn dieser dem ganzen Verwandtschaftssystem vorsteht (s. Abb. 2). Dies hat zur Folge, dass Spaltungen entlang Verwandtschaftslinien sehr wahrscheinlich werden, sich Despotismus nur auf den unteren Stufen des Systems ausprägt und der Chef des Verwandtschaftssystems zur Vergrösserung seiner Machtbasis auf nicht verwandtschaftlichen Grundlagen (Sklaven, Klientelbeziehungen, Fremde) abstützen muss.

Abb. 2: Organisationsweise von Verwandtschaftssystemen. Akkumulation von Macht: Wenn a stirbt, wird der Vorsteher der Linie b Chef des Verwandtschaftssystems. Hypoarchie: Die Macht von a auf die Verwandtschaftslinie von C ist geringer als die Macht von C auf seine Verwandtschaftslinie

 

Am wenigsten ausführlich werden von Testart die Alters- und Generationsklassensysteme behandelt, die sich häufig in Ostafrika finden. Sie scheinen insofern ähnlich wie primitive Demokratien zu funktionieren, indem sie eine Generationsversammlung haben, die über Krieg und Frieden entscheidet. Gleichzeitig kennen sie aber auch altersklassenspezifische Funktionen, die nach einer bestimmten Anzahl Jahre wieder abgegeben werden müssen (Tornay 2009).

Auf staatliche Strukturen geht Testart lediglich in Form des Despotismus ein, den er vor allem in Bezug auf afrikanische Königreiche diskutiert. Von Despotismus spricht er, wenn eine einzige Person alle politische, ökonomische und/oder religiöse Macht in sich vereint und neben sich keinen weiteren Herrscher toleriert. Die Basis dieser Macht liegt klar in der Welt II; wenn es nämlich keine Landaristokratie gibt, durchdringt der Staat das ganze Wirtschaftssystem. Weiter ist der Despot immer auf die Existenz einer Gruppe von Menschen angewiesen, die ihm bedingungslos loyal ist und nicht mit ihm um die Herrschaft konkurriert (d. h. oftmals nicht näher mit ihm verwandt ist). Die Macht des Königs hat jedoch Grenzen, zumal keine administrative, territoriale Spezialisierung eintritt, sondern ähnlich wie bei einem Verwandtschaftssystem regionale Stellvertreter eingesetzt werden, die im ihnen zugewiesenen Gebiet umfassende fiskale, militärische und bürokratische Macht besitzen. Der König behält zwar die unmittelbare Befehlsgewalt über das Gebiet um seine Hauptstadt, das Verhältnis zwischen König und regionalen Stellvertretern ist jedoch gleich wie bei Verwandtschaftssystemen durch Hypoarchie geprägt und das ganze System dadurch anfällig für Zersplitterung (Testart 2005, p. 114-119).

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2.4. Die Klassifikation von Gesellschaften

Ökonomisch und politisch teilt Testart die Gesellschaften jeweils in drei Kategorien auf; in die Welten I bis III, in minimale politische Organisationsweisen, Semi-Staaten und Staaten. Aus der Welt I sind bisher nur minimale politische Organisationsweisen bekannt, aus der Welt III nur Staaten. Es ergeben sich für Testarts Klassifikation also fünf Klassen (Testart 2005, p. 128-129):

1.    Gesellschaften ohne Reichtum mit minimaler Organisation, sogenannte achrematische Gesellschaften.

2.    Gesellschaften mit Reichtum aber ohne Grundbesitz mit politisch minimaler Organisation, die sich oft plutokratisch organisieren sind und eine intrinsische Veranlagung zu ostentativen Ausgaben haben.

3.    Gesellschaften mit Reichtum, ohne Grundbesitz aber mit einer semi-staatlichen Organisationsweise.

4.    Gesellschaften mit Reichtum, ohne Grundbesitz und mit einer staatlichen Organisationsform.

5.    Gesellschaften mit Reichtum, mit Grundbesitz und mit staatlicher Organisation.

Innerhalb dieser Klassen unterscheidet Testart unterschiedliche Typen, welche in sich jene Elemente zusammenfassen, die charakteristisch für die jeweilige Gesellschaften sind und den Schlüssel zum sozialen Verständnis dieser Gesellschaften darstellen. Diese Typen können dabei in Reinform, vermischt oder zusammengesetzt vorkommen (Testart 2005, p. 123-128).

Tab. 3: Testarts Klassifikationssystem

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3. Megalithische Gesellschaften

Bereits anhand von neoevolutionären Klassifikationssystemen wurde in prozessualistischen Kreisen unter der Federführung von Colin Renfrew und Alain Gallay versucht, megalithische Gesellschaften zu klassifizieren (Jeunesse 2016, p. 5-7). Erst Testarts Klassifikationssystem vermochte der Diskussion um megalithische Gesellschaften eine neue Richtung zu verleihen und wurde nur kurze Zeit nach seiner Erscheinung bereits von Alain Gallay aufgegriffen. Gallay betont insbesondere die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehung in seinen Überlegungen zum Megalithismus. Zwar anerkennt er, dass auch in ostentativen Plutokratien sowie primitiven Demokratien Megalithismus entstehen kann und ordnet diese Gesellschaftssysteme den frühneolithischen westeuropäischen respektive glockenbecherzeitlichen Megalithen zu (Gallay 2007, p. 345-346); die meisten archäologischen und ethnologischen Beispiele bringt er jedoch mit semi-staatlichen Verwandtschaftssystemen in Verbindung (Gallay 2006, p. 45). Megalithen versteht er dabei als generellen Ausdruck von kompetitiven sozialen Systemen für den Erwerb und die Aufrechterhaltung von politischer Macht (Gallay 2017, p. 47). Besonders seine Aussagen über Verwandtschaftssysteme sind jedoch nicht unproblematisch und rühren massgeblich auch daher, dass Gallay Verwandtschaftsbeziehungen, die in fast allen Gesellschaften der Welt eine bedeutsame Rolle spielen, mit den von Testart klar definierten Verwandtschaftssystemen gleichsetzt (Jeunesse 2016, p. 8-9).

Obwohl Testart die megalithischen Gesellschaften teils widersprüchlich in seine Klassifikation einordnet (Jeunesse 2016, p. 9-10), gibt er klare Hinweise darauf, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen er die neolithischen Megalithen sieht; wie die gesamte Ur- und Frühgeschichte Europas ordnet Testart das Neolithikum der Welt II zu (Boulestin 2012; Testart 2012, p. 407-410). Im Gegensatz zur paläolithischen 'Kunst', die beispielsweise in Form von weiblichen Statuetten oder Höhlenmalerein eine diskrete, fast schon versteckte Form annimmt, hat der neolithische Megalithismus einen ostentativen Charakter: «Le sens du monumentalisme naquit avec le néolithique.» (Testart 2012, p. 439) Während frühneolithisch megalithische Anlagen im Nahen Osten wichtig für die gemeinschaftliche Strukturierung des dörflichen Lebens gewesen zu sein scheinen und daher eher Ausdruck einer primitiv demokratischen oder verwandtschaftlichen politischen Organisationsform sind, waren die frühen megalithischen Gräber Westeuropas vermutlich nur einer kleinen Personengruppe zugänglich und wirken dadurch individualistischer. Als augenfällig streicht Testart einerseits den ikonografischen und räumlichen Bezug dieser Megalithen zum Wasser heraus, andererseits das Auftreten der frühen Megalithen in erst gerade mit der Neolithisierung in Berührung gekommenen Gebieten (Testart 2004, p. 466-470). Testart schliesst daraus, dass es sich bei diesen um immer noch in mesolithischer Tradition stehende ostentative Plutokratien mit minimalen politischen Organisationsformen handeln könnte, die Megalithen daher primär Ausdruck von Reichtum einer Person oder Personengruppe sind; ähnlich wie für die Anfertigung eines Kanus auf den Trobriand-Inseln und für den elitären Häuserbau auf Melanesien dürfte dabei die Bezahlung in Form von Speis und Trank auf Festen zentral für die Errichtung der Megalithen gewesen sein (Testart 2012, p. 440-444; Testart 2016, p. 335-336). Testart weist dabei die These zurück, dass über den Verlauf des Neolithikums die Megalithen einen demokratischeren Charakter annahmen, wie die Reduktion der Megalithgrösse und die Zunahme der Anzahl von Bestatteten in megalithischen Monumenten suggeriert; da die materielle Voraussetzung für die Errichtung eines Megalithen womöglich nur die Ausrichtung eines Festes war, drücken die kleineren Megalithen eher den Repräsentationswillen von neu zu Reichtum gekommenen Personen aus. Weiter streitet Testart einen Zusammenhang zwischen Verwandtschaftssystemen und Megalithismus mit Vehemenz ab; das Beispiel der madagassischen Merina belege zwar die Möglichkeit des Auftretens von Megalithen in Verwandtschaftssystemen, nirgends scheinen diese aber selbst Ausdruck von verwandtschaftlicher Gesellschaftsstrukturierung zu sein, zumal sogar bei den Merina die Zuweisung zu einem megalithischen Grabmal nicht nach der Logik einer Abstammungslinie funktioniert, sondern viel freier nach Familiengruppen gewählt werden kann (Testart 2012, p. 474; Testart 2016, p. 334-335).

Einen eleganten Vorschlag für die Einordnung der megalithischen Gesellschaften, präsentiert Bruno Boulestin in einem unlängst erschienen Artikel (Boulestin 2016). Er propagiert darin eine Unterscheidung zwischen Konstruktionen, die Megalithen von mehr als 15 Tonnen Gewicht umfassen (Typ I), und solchen, die keine Megalithen aufweisen, die schwerer als 10 bis 14 Tonnen sind (Typ II). Wie Boulestin beobachtet, kommen erstere vor allem in Regionen vor, welche in überwiegender Mehrheit mit ostentativen Plutokratien oder Staaten in Verbindung gebracht werden. Dies ergibt insofern Sinn, als dass er als Voraussetzung für die Akquirierung von genügend Arbeitskraft für die Errichtung derart grosser Megalithen ostentative rituelle Feste (im Falle der ostentativen Plutokratien) oder direkte politische Macht (im Falle der Staaten) annimmt. Eine Ausnahme stellen für Boulestin die Merina auf Madagaskar dar, die sowohl typische asiatische ostentativ-plutokratische Charakteristika wie Reichtum als zentrales Prestige- und Machtmittel, als auch typisch afrikanische Elemente der Verwandtschaftssysteme in sich vereinen. Die Megalithen des Typs II finden sich dahingegen in fast allen Gebieten der Welt und können bereits mit einigen dutzend Personen transportiert und errichtet worden sein, weshalb eine Aussage über die dahinterliegende Motivation und soziale Organisation auf Basis der Megalithen nicht möglich ist (Boulestin 2016, p. 83-89).

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4. Schlusswort und Ausblick

Wie die angeführten Beispiel zeigen, ist eine klare, widerspruchslose Einteilung der megalithischen Gesellschaften in eine von Testarts Klassen nicht möglich. Selbst Testarts eigene Einordnung vermag das Phänomen nicht in seiner ganzen Bandbreite zu beschreiben und erweist sich im Detail – wie beispielsweise in Bezug auf die Merina – als nicht ohne eine gewisse innere Widersprüchlichkeit. Erklärungen für die Entstehung von Megalithismus jedoch wieder hauptsächlich in kulturellen Traditionen zu suchen und gesellschaftlich auf scheinbar fast universell gültige Aspekte wie Monumentalitätswille zu beschränken, wie dies beispielsweise Christian Jeunesse vorschlägt (Jeunesse 2016, p. 14), scheint indes zu kurz gegriffen; dies würde die massgebliche gesellschaftliche Komponente – die das Phänomen zweifellos hat – nahezu unberücksichtigt lassen.

Die Stärke von Testarts Klassifikationssystem besteht gerade darin, das systematische Nachdenken und Sprechen über Gesellschaften zu ermöglichen. So stellt es gewissermassen einen ethnologisch fundierten Rahmen dar, in dem man sich gesellschaftliche Erscheinungsformen in ihrer ganzen Vielfalt überhaupt vorstellen kann. Gerade die dargelegten Beispiele beweisen dies deutlich; es wäre wohl schwierig, sich jenseits von Alain Testarts Klassifikation einen derart breit abgestützten und geordneten wissenschaftlichen Diskurs vorzustellen, der nicht bereits an begrifflichen Unstimmigkeiten scheitern würde. Testarts Klassifikationssystem hat daher auch in Bezug auf die Frage nach megalithischen Gesellschaften eine klare Berechtigung. Im Weiteren ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Anwendung von Testarts Klassifikation im Detail nicht ohne innere Widersprüche bleibt; sowohl in Bezug auf Gesellschaft, als auch in Bezug auf Megalithismus weisen die untersuchten Phänomene einen derart hohen Grad an Vielfalt und Komplexität auf, dass ein einfaches Klassifikationssystem zwangsläufig zu kurz greifen muss, auch wenn es im Grossen und Ganzen richtig bleibt.

Was vermag Testarts Klassifikation also zur Diskussion über den neolithischen Megalithismus beizutragen? Wie die paraphrasierten Autoren übereinstimmend ausführen, scheint es wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen frühem Megalithismus, einer plutokratischen Gesellschaftsordnung und ostentativen Praktiken besteht. Gerade hier könnte sich eine Verbindung mit dem deutschsprachigen Forschungsdiskurs als besonders fruchtbar erweisen; im deutschsprachigen Raum häufig aufgegriffene Konzepte wie Monumentalisierung der Landschaft (Vgl. Hinz et al. 2019) oder Assmanns kulturelles Gedächtnis (Vgl. Furholt und Müller 2011; Wunderlich 2019) scheinen in keinem prinzipiellen Widerspruch zu Testarts gesellschaftlichen Klassifizierung zu stehen und tragen in sich womöglich das Potenzial, eine bedeutende kulturelle respektive sozialgeografische Perspektive zum weiteren Verständnis des megalithischen Phänomens beizusteuern.

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5. Literaturverzeichnis

Boulestin B. (2014) 'Une lecture de “Avant l’histoire”', L’Homme, 212, p. 37-55.

Boulestin B. (2016) 'Qu’est-ce que le mégalithisme ?' in Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 57-98.

Furholt M., Müller J. (2011), 'The earliest monuments in Europe – architecture and social structures (5000 – 3000 BC)' in Furholt M., Lüth F., Müller J. (eds.) Megaliths and Identities: Early Monuments and Neolithic Societies from the Atlantic to the Baltic. Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung 1. Bonn: Habelt, p. 15-34.

Gallay A. (2006), Les Socitétés Mégalithiques. Pouvoir des hommes, mémoire des morts. Collection Le savoir suisse 37. Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes.

Gallay A. (2007), 'Cistes de type Chamblandes: 15 ans recherches, quels progrès?' in Moinat P., Chambon S. (eds.), Les cistes de Chamblandes et la place des coffres dans les pratiques funéraires du Néolithique moyen occidental. Actes du colloque de Lausanne, 12 et 13 mai 2006. Cahiers d'archéologie romande 110. Lausanne, Paris: Cahiers d'archéologie romande.

Gallay A. (2016), 'Quelles interogations pour les études mégalithiques ?' in Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 19-56.

Hinz M., Müller J., Wunderlich M. (2019), 'The Monumentalism of European Landscapes' in Müller J., Hinz M., Wunderlich M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality and Social Differentation in Neolithic Europe. Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung 18. Bonn: Habelt, p. 21-24.

Jeunesse C. (2016), 'De l’Île de Pâques aux mégalithes du Morbihan. Un demi-siècle de confrontation entre ethnologie et archéologie autour du mégalithisme' in Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 3-18.

Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology.

Müller J., Hinz M., Wunderlich M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality and Social Differentation in Neolithic Europe. Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung 18. Bonn: Habelt.

Service E. R. (1965), Primitive Social Organization: an Evolutionary Perspective. New York: Random House.

Steward J. H. (1955), Theory of Culture Change. The Methodology of Multilinear Evolution. Champaign: University of Illinois Press.

Testart A. (2005), Elément de classification des sociétés. Paris: Editions Errance.

Testart A. (2012), Avant l'histoire : l'évolution des sociétés, de Lascaux à Carnac. Paris: Gallimard.

Testart A. (2014), 'Anthropology of the Megalith-Errecting Societies' in Besse M. (ed.) Around the Petit-Chasseur Site in Sion (Valais, Switzerland) and New Approaches to the Bell Beaker Culture. Proceedings of the International Conference Held at Sion (Switzerland) October 27th – 30th, 2011. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 331-336.

Tornay P. (2005), 'Alain Testart, Éléments de classification des sociétés. Editions Errance, 2005, 156 pages', Journal des africanistes, 79, p. 387-400.

Wunderlich M. (2019), 'Social Implications of Megalithic Construction – A Case Study from Nagaland and Northern Germany' in Müller J., Hinz M., Wunderlich M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality and Social Differentation in Neolithic Europe. Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung 18. Bonn: Habelt, p. 1133-1152.

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6. Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Hergestellt von T. Geitlinger, nach Testart 2005, p. 46.

Abb. 2: Nach Testart 2005, p. 111.

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[1] Megalithen (von μέγας = gross und λίθος = Stein) bezeichnen aus architektonischer Sicht aus grossen, teils aus weiten Entfernungen hertransportierten Steinen errichtete Monumente (insb. Dolmen und Menhire), die ohne maschinelle Hilfe errichtet wurden (Gallay 2006, p. 10-11).

 

[2] Für Testart ist die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Kultur entscheidend: Gesellschaft ist keine menschliche Gemeinschaft, sondern stellt lediglich eine Gesamtheit von Institutionen und Strukturen dar, mit der sich speziell die Soziologie beschäftigt. Kultur umfasst im Gegensatz dazu die Art und Weise, wie diese Strukturen in der Gesellschaft (z. B. in Form von Sprache oder Tradition) verwurzelt sind und sinngebend symbolisch wiedergegeben werden (Testart 2005, p. 122-123).

 

[3] Oder auf Basis dessen, was wir als Natur der Dinge wahrnehmen (Testart 2005, p. 9).

 

[4] Man würde eine Echse und eine Maus auch nicht in die gleiche biologische Klasse einordnen, nur weil sie ungefähr gleich gross sind (Testart 2005, p. 13).

 

[5] Gemäss Testart jene Aspekte sozialer Verhältnisse, die eine gewisse Materialität implizieren und durch Nutzgüter realisiert werden (Testart 2005, p. 25).

 

[6] Gemäss Testart die Macht der Macht, die Macht des Befehlens und des Nicht-Befohlen-Werdens (Testart 2005, p. 81).

 

 

[7] Testart spricht in diesem Zusammenhang von propriété fundière oder fondière wie von fond (Boden) oder Latifundium (Grundstück) (Testart 2005, p. 27)

.

[8] Aristocratie foncière (Testart 2005, p. 26).

 

 

[9] Rente foncière (Testart 2005, p. 26).

 

[10]Dorfgemeinschaften, Abstammungsgemeinschaften, Könige o. ä. (Testart 2005, p. 27).

 

[11] Testart umschreibt dies mit dem Begriff 'Usufondée' (Testart 2012, p. 408).

 

[12] Sklaven gehören nicht zur Gemeinschaft, haben kein Recht auf Land, Titel, die Resultate ihrer Arbeit und Familie. Alle Rechte der Sklaven übernehmen ihre Besitzer (Testart 2005, p. 28).

 

[13] Nach Testarts Terminologie: Achrematische Gesellschaften (Testart 2005, p. 26).

 

[14] Nach Testart: Prix de la fiancée. Die Frau wird dabei nicht gekauft, sondern nur die Rechte an ihr (Testart 2005, p. 30).

 

[15] Nach Testart: Prix du sang resp. Wergeld. Kompensation an die Eltern, falls eines ihrer Kinder umgebracht wird (Testart 2005, p. 30f.).

 

[16] Nacht Testart: Amendes. Für Ehebruch, Verführung, Tabubruch, Inzest usw. (Testart 2005, p. 31).

 

[17] Nach Testart: Ploutocraties ostentatoires (Testart 2005, p. 46).

 

[18] Nach Testart: Dons et distributions (Testart 2005, p. 49).

 

[19] Testart spricht in diesem Zusammenhang von den melanesischen 'rubbish men' als besonders drastisches Beispiel für die geringe soziale Wertschätzung der ärmeren Schicht (Testart 2005, p. 47f.).

 

 

[20] Nach Testart: Le dot (Testart 2005, p. 62).

 

 

[21] B wie bride price oder bridewealth (Testart 2005, p. 62).

 

[22] C wie combinaison (Testart 2005, p. 62).

 

[23] Es scheint dabei eine klare Korrelation zwischen den Gesellschaften zu geben, die Schuldsklaverei zulassen, und der Heiratspraxis des Modus B (Testart 2005, p. 64-66).

 

[24] Wenn z. B. der Schwager einer Person dessen Schwester heiratet (Testart 2005, p. 69).

 

[25] Simples inégalités (Testart 2005, p. 66)

[26] Relations en dépendances entre maître et ésclaves (Testart 2005, p. 66):

 

 

[27] So haben die Yurok Nordkaliforniens beispielsweise die wenig beneidenswerte soziale Kategorie der "Halbmänner" erfunden, d.h. jene Männer, die nur die Hälfte des Brautpreises zahlen konnten und dauerhaft an das Haus und die Arbeit ihres Schwiegervaters gebunden sind. Bei den Nupe in Nigeria war es üblich, jüngere Söhne oder sich selbst zu verpfänden, um die Heiratsentschädigung des ältesten Sohnes zu erhalten. (Testart 2005, p. 62-63).

 

[28] Nach Testart: Démocratie primitive (Testart 2005, p. 106-108).

 

[29] Nach Testart: Organisation lignagère (Testart 2005, p. 109-113).

 

[30] Nach Testart: Classes d'âge et classes générationnelles (Testart 2005, p. 113).

 

[31] Es ist immer klar, wer was besitzt, und wer was vererbt bekommt (Testart 2005, p. 109).

 

[32] Z. b. in Bezug auf die Blutrachte (Testart 2005, p. 109).

 

[33] Im Falle des familiären Despotismus: Will ein Onkel seinen Neffen aus finanziellen Gründen verkaufen, kann er das (Testart 2005, p. 110).