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   Was sind
  megalithische Gesellschaften?  Testarts
  Klassifikationssystem und die Frage nach der Verortung der megalithischen
  Gesellschaften  Timo Geitlinger  | 
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   2 Testarts
  Klassifikationssystem 3
  Megalithische Gesellschaften 5 Provisorisches
  Literaturverzeichnis  | 
  
  
   Megalithen [1]  treten
  weder in einem geografisch einheitlichen Raum noch in einem zeitlich begrenzten
  Rahmen auf, sondern sind auf fast allen Kontinenten und mindestens seit den
  letzten 6'500 Jahren der Menschheitsgeschichte fassbar (Gallay
  2004, p. 9). Die Vermutung liegt daher nahe, dass Megalithismus
  als Phänomen weniger als distinkte kulturelle Erscheinung erklärt werden
  kann, die sich von einem Ausgangspunkt kontinuierlich über die Welt
  verbreitet hat, sondern viel mehr Ausdruck von ähnlichen sozialen,
  wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen ist, die unabhängig von Zeit
  und Raum in verschiedenen Gesellschaften herrschten. Ein geeigneter Rahmen, um
  megalithische Gesellschaften miteinander in Beziehung zu setzen und über ihre
  strukturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten nachzudenken, bietet Alain
  Testarts einflussreiche Gesellschaftsklassifikation. Testart entwickelte
  diese anfangs der 2000er-Jahre in seinem Werk Eléments
  de classification des sociétés
  (Testart 2005) in klarer Abgrenzung zu gängigen, neoevolutionären
  Klassifikationsschemata und führte seine Überlegungen bis zu seinem Tod im
  Jahr 2013 in verschiedenen Beiträgen aus (Testart 2012; Testart 2014). Zwar
  wurde Testarts Klassifikation von menschlichen Gesellschaften in der
  Diskussion um Megalithen immer wieder aufgegriffen und produktiv angewendet,
  doch beschränkten sich diesbezügliche Beiträge meist auf den frankophonen
  Forschungsdiskurs und wurden im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum
  kaum rezipiert. So kommt es, dass im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
  geförderten und 2019 erschienenen 1'200 seitigen
  Tagungsband der Konferenz Megaliths – Societies – Landscapes.
  Early Monumentality and Social
  Differentiation in Neolithic Europe (Müller et
  al. 2019) Alain Testart nur dreimal zitiert wird, kein einziges Mal aber im
  Kontext seiner Klassifikation von Gesellschaften. In einem vergleichbaren 294 seitigen Sammelband (Jeunesse et al. 2016), der im
  Anschluss an einen Table Ronde in Strassburg im Jahr 2016 publiziert
  und unter anderem vom Centre national de
  la recherche scientifique
  gefördert wurde, entfallen auf Testart 294 namentliche Erwähnungen. Testarts Klassifikationssystem
  und mögliche Rückschlüsse, die es auf megalithische Gesellschaften zulässt,
  werden in diesem Artikel ausführlich beleuchtet. Dazu wird in einem ersten
  Kapitel auf Testarts Klassifikationssystem eingegangen, wobei für die
  französische Terminologie erstmals quellennahe deutschsprachige
  Übersetzungsversuche vorgeschlagen werden. In einem zweiten Kapitel sollen
  die bisherigen Anwendungsversuche des Klassifikationssystems auf
  megalithische Gesellschaften kritisch rezipiert werden. 2.
  Testarts Klassifikationssystem 2. 1. Das Wesen von Testarts
  Klassifikation Testarts Klassifikation von
  Gesellschaften [2] ist eine Ordnung
  auf Basis der Natur [3] der
  umschriebenen Phänomene. Als solche ist sie nicht apriori
  Ausdruck von Evolution – also auch nicht wie biologische und linguistische
  Klassifikation prinzipiell phylogenetisch. Erst wenn sie mit zeitlichen und
  historischen Begebenheiten in Verknüpfung gebracht wird, kann sie als
  Grundlage und Mittel dienen, um über Evolution nachzudenken und historische
  Prozesse zu verstehen (Testart 2005, p. 10-11). Diese klare Unterscheidung
  ist für Testarts Denken insofern bedeutend, als dass aus ihr einerseits seine
  tieferliegende Motivation für die Klassifikation ersichtlich wird;
  offensichtlich schwebte ihm ein ganzes Forschungsprogramm vor, in dem er sich
  auf Basis der Klassifikation der umfassenden archäo-ethnologischen
  Untersuchung der Evolution von Gesellschaften widmen wollte, das aber mit Avant l'Histoire
  (Testart 2012) vermutlich nur partiell seinen Abschluss fand (Testart 2005,
  p. 11). Andererseits schwingt darin auch
  bereits deutlich eine erste Kritik an neoevolutionären
  Klassifikationssystemen mit, welche diese klare Unterscheidung nicht machen:
  Neoevolutionisten gehen in ihrer Klassifikation von einer inhärenten
  historisch-evolutionären Komponente aus, dass also alle Gesellschaften
  zwangsläufig und logischerweise die verschiedenen Stufen der Klassifikation
  durchlaufen oder durchlaufen haben. Zwar gibt es mehrere neoevolutionäre
  Klassifikationssysteme – das bekannteste ist dabei wohl die Unterteilung von
  Elman Service in Hordengesellschaft (Bande),
  Stammesgesellschaft (Tribe), Häuptlingstum (Chiefdom) und Staat (State) (Service 1965) –, doch weisen
  sie alle grundlegende gemeinsame Charakteristika auf; alle Klassifikationen
  erkennen die Produktionsverhältnisse und Populationsdichte als zentrale Elemente
  der Klassifikation an und klassifizieren die Gesellschaften nach
  verschiedenen 'Integrationsniveaus'. Eine Zunahme der inneren Integration im
  Zuge demografischer und wirtschaftlicher Veränderung geht dabei mit einem
  Anstieg der Komplexität und Hierarchisierung von Gesellschaften einher
  (Service 1965; Steward 1955; Testart 2012, p. 52-57). Testarts Kritik setzt genau an
  diesem Punkt an: Integration wird als schwammige Worthülse zurückgewiesen,
  die von den Neoevolutionisten ohne weitere Begriffserklärung verwendet wird
  und einen bisher nicht belegten Zusammenhang zwischen sozialer
  Organisationsweise und Dichte des sozialen Netzes suggeriert. Und auch eine
  Reduktion des Begriffs Integration auf die Gruppengrösse wäre fatal, zumal
  dann morphologische Kriterien die Grundlage der Klassifikation darstellten [4]. Indem
  sich diese Klassifikationen auf Integrationsniveaus beschränken, ignorieren
  sie alle grundlegenden strukturellen soziologischen Einheiten von
  Gesellschaften wie Wirtschaft, Politik oder Technologie und vermögen dadurch
  niemals die Komplexität von gesellschaftlichen Prozessen wiederzugeben.
  Weiter stellen die neoevolutionären Klassifikationen in Testarts Verständnis
  keine evolutionäre Gliederung, sondern eine hierarchische Klassifizierung
  dar; da nur ethnologische und keine historischen sowie archäologischen
  Quellen einbezogen werden (Testart 2012, p. 58-59), können sie offensichtlich
  auch keine realhistorischen Begebenheiten darstellen. Ansonsten müssten die
  antiken Staaten Griechenlands beispielsweise jünger eingeordnet werden als
  die Wildbeuter der Nord-Westküste Kanadas (Testart 2005, p. 16-17). Komplexität und Hierarchisierung
  implizieren zudem ein völlig falsches Verständnis von Evolution. Viele
  scheinbar primitive Gesellschaften sind in Bezug auf ihre soziale Struktur,
  Ideologien und politischen Kontroversen äusserst vielfältig, weshalb
  Evolution nicht einfach als Entwicklung von primitiv nach komplex verstanden
  werden darf. Dieses fatale Missverständnis fusst dabei auf mehreren
  grundlegenden Irrtümern; wir tendieren dazu, das als am primitivsten zu
  klassifizieren, was am weitesten von unserer eigenen Lebensweise entfernt
  ist. Soziale Beziehungen funktionieren im Gegensatz zu Technologie jedoch
  nicht kumulativ und sammeln sich im Verlauf der Zeit nicht automatisch an.
  Zudem muss man immer eine doppelte Überlieferungslücke im archäologischen und
  historischen Quellenmaterial berücksichtigen, da soziale Handlungen nur
  selten Niederschlag im Befundbild finden und die meisten nicht staatlichen
  Gesellschaften auch kein Schriftquellen hinterlassen haben (Testart 2005, p.
  19f.; Testart 2012, p. 71-74). Für seine Klassifikation
  schliesst Testart daraus, dass sie sich gleich wie die biologische
  Klassifikation von Tieren und Pflanzen auf die Struktur des zu
  klassifizierenden Gegenstands (Gesellschaft) beziehen muss, aber im Gegensatz
  zur biologischen Klassifikation von keiner immanenten Komplexifizierung
  ausgehen darf. Als zentrale strukturelle Elemente von Gesellschaften stützt
  er sich dabei als Klassifikationskriterien vordergründig auf Wirtschaft [5] und Politik [6], zweitrangig
  auf soziale Organisationsformen ab. 2.2. Testarts wirtschaftliche
  Klassifikation Das uns geläufigste
  Wirtschaftssystem ist jenes, bei dem die Produktionsmittel im Privatbesitz sind.
  Es wird von Testart als Welt III bezeichnet. Im vorindustriellen Zeitalter
  war das wichtigste Produktionsmittel der Boden [7]. In diesen
  agrarischen Gesellschaften lassen sich drei grundlegende Merkmale festhalten;
  erstens existiert eine Klasse, die den Boden besitzt [8], die,
  zweitens, den Boden gegen eine Bodenrente [9] verpachtet
  und zwar, drittens, an eine Klasse, die keinen Boden besitzt und ausgebeutet
  wird. Im marxistischen Sinn existiert also ein inhärenter Widerspruch
  zwischen jenen, die Produktionsmittel besitzen, und jenen, die dies nicht tun
  (Testart 2005, p. 26). Wie uns aber ethnografische
  Beispiele aus dem präkolonialen Afrika zeigen, existieren auch
  Gesellschaften, die keinen Besitz auf Boden, sondern nur auf die Resultate
  der eigenen Arbeit kennen. Das Land wird von den übergeordneten politischen
  Strukturen [10] verwaltet und nach Bedarf
  an die Mitglieder der Gesellschaft verteilt. Es ist nur so lange im Besitz
  einer Person, wie es von dieser Person bewirtschaftet wird. [11] Ein Bauer ohne Land
  existiert daher nicht und Renten können nur durch die Abhängigkeit von
  Menschen – durch die Verpfändung von Arbeit oder Sklaverei [12] – erzielt
  werden. Testart bezeichnet dieses Szenario als Welt II (Testart 2005, p.
  28-29). Daneben gibt es aber auch Gesellschaften,
  die keinen sozial nützlichen Reichtum kennen [13]. Der Unterschied zwischen
  diesen von Testart unter dem Begriff Welt I zusammengefassten Gesellschaften
  und jenen der Welt II liegt massgeblich in der techno-ökonomischen
  Produktionsweise, im Speziellen im Vorhanden- und Abwesendsein
  von Gebrauchsgüterlagerung. So finden sich in der Welt I Gesellschaften, die
  als Jäger und Sammler respektive als Gartenbauer ihre Subsistenz auf nicht lagerbare Erzeugnissen ausgelegt haben. Das
  Jäger-Sammlertum ist jedoch nicht ein
  ausschliessendes Kriterium für die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zur Welt
  I, zumal auch Wild- und Feldbeuter – wie
  beispielsweise die Nord-West-Küsten Gruppen Kanadas – Subsistenzmittel lagern
  konnten. Da sie für die Frage nach
  megalithischen Gesellschaften besonders zentral ist, werde ich mich in den
  folgenden Ausführungen massgeblich auf die Welt II beschränken. Ein
  grundlegender Unterschied der drei Welten wird deutlich sichtbar, wenn der
  Begriff des Reichtums eingeführt wird. Reichtum bezeichnet eine Ansammlung
  von materiellen und immateriellen Gütern, die einen Gebrauchswert haben und
  sich eignen, getauscht zu werden. Güter können auch Rechte an anderen
  Menschen oder an Dingen sein (Testart 2005, p. 33). Wirtschaftliche Macht
  geht also immer vom Besitz von Gütern aus (Testart 2005, p. 40). Reichtum
  wird erreicht, wenn alle Bedürfnisse gedeckt und zudem alle wünschenswerten
  Dinge, die darüber hinaus vorstellbar sind, erworben werden können. Während Reichtum
  in der Welt I nicht existiert, führt er in der Welt III dazu, dass mehr Land
  gekauft werden kann, was in grösserer Bodenrente, mehr Reichtum und – indem
  man über mehr Menschen wirtschaftlich verfügt – in Akkumulation von Macht
  resultiert (Testart 2005, p. 28-29). In der Welt II existiert aber kein
  Landbesitz, typischerweise auch keine Lohnarbeit, da die Subsistenz durch die
  eigene Arbeit gedeckt wird. Reichtum ist also weder überlebensnotwendig, noch
  kann er produktiv reinvestiert werden (Testart 2005, p. 28-29; ebd., p. 41). Was kann man in der Welt II aber
  nun mit Reichtum tun? Einerseits kann Reichtum dazu verwendet werden, soziale
  Verpflichtungen zu begleichen. Typischerweise gibt es in der Welt II drei
  Arten von solchen Zahlungen: Brautgeld im Zuge der Heirat [14], Blutpreis respektive Wergeld [15] oder Strafzahlungen [16]. Diese
  Verpflichtungen werden meistens in Form von Geld, also nach Testarts Verständnis
  mit einem standardisierten Zahlungsmittel mit gegenseitig anerkanntem Wert
  (Testart 2005, p. 28), getätigt. Verschuldung ist dementsprechend in der Welt
  II ein besonders grosses Problem, da soziale Verpflichtungen bei fehlendem
  Reichtum nicht mehr beglichen werden können und dies sogar im schlimmsten
  Fall zur Versklavung der verschuldeten Person führen kann (Testart 2005, p.
  32; ebd., p. 42-43). Da Sklaverei sowohl Ausdruck als auch Mittel zur
  Ansammlung von Reichtum ist, erstaunt es in diesem Sinne kaum, dass Sklaverei
  in fast allen Gesellschaften der Welt II auftritt (Testart 2005, p. 43).  Da es nur in einem begrenzten
  Umfang Möglichkeiten gibt, den Reichtum produktiv zu investieren, erscheint
  es nach Begleichung der sozialen Verpflichtungen in den Gesellschaften der
  Welt II hauptsächlich erstrebenswert, Reichtum auf eine sozial anerkannte Art
  und Weise auszugeben, so dass der Gebende längerfristig dafür soziale
  Wertschätzung erfährt, der Reichtum also in Prestige umgewandelt wird (s. Abb. 1). Existiert für diesen Zweck ein formelles System,
  spricht man im Kontext der Welt II von ostentativen Plutokratien. [17] Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten,
  wie Reichtum ostentativ in Prestige umgewandelt werden kann; durch die Spende
  oder Verteilung von Reichtum [18], durch den Erwerb von
  Gebrauchsgütern oder durch Zahlungen, die rein verschwenderischen Zwecken dienen.
  Solche ostentative Praktiken können vielseitige
  Ausprägungsformen annehmen (Vgl. Tab. 1).  Abb. 1:
  Gesellschaftliche Verwendung von Reichtum in der Welt II (links) und der Welt
  III (rechts). Tab. 1: Beispiele
  für ostentative Praktiken der Welt II (Testart 2005, p. 49-58). Aus den Gesellschaften der Welt
  II leitet Testart fünf inhärente Tendenzen ab; erstens, dass eine soziale
  Differenzierung nach Reichtum entsteht, die zweitens in einer
  gesellschaftlichen Stratifizierung resultiert, bestehend aus der reichen
  Elite, welche durch ihren Reichtum die meiste politische Macht ausübt und
  ostentative Ausgaben tätigen kann, der gemeinen Bevölkerung, die ihre sozialen
  Verpflichtungen nachkommen kann, und jenen, die zu wenig besitzen und
  verschuldet sind.
  [19] Hierbei von
  egalitären Gesellschaften zu sprechen, ist aus Sicht von Testart deshalb
  völlig absurd (Testart 2012, p. 413-416). Drittens werden die armen
  Bevölkerungsschichten finanziell immer weiter abhängig gemacht; dies geht oft
  mit der Entstehung von Klientelbeziehungen innerhalb von diesen
  Gesellschaften einher (Testart 2012, p. 413). Ohne andere politische
  Mechanismen ist, viertens, deshalb der Reichste der Mächtigste; diese
  Gesellschaften sind also spontan plutokratisch. Besonders bedeutend ist in
  diesem Zusammenhang die Figur des Big Man, als der Person, welche in
  diesem System Macht besitzt, weil sie reich ist (Testart 2005, p. 44-45). Da,
  fünftens, der Reichtum nicht produktiv ausgegeben werden kann, existiert eine
  inhärente Tendenz zu ostentativen Gaben (Testart 2005, p. 47-48). Ein weiterer klassifizierender
  ökonomischer Aspekt der Gesellschaften der Welt II umfasst die Heiratssysteme.
  Besonders zentral ist dabei der Brautpreis. Es kann nach Gesellschaften
  unterschieden werden, die einen Brautpreis zahlen, ohne dass sie eine Mitgift
  [20] bekommen (Modus B [21]), und jenen, die zwar einen
  Brautpreis zahlen, aber eine Mitgift zurückbekommen (Modus C [22]). Diese kann substanziell
  kleiner oder grösser oder gleich wie der Brautpreis ausfallen. Besonders
  problematisch ist der Brautpreis ohne Mitgift, da er unter Umständen eine
  Verschuldung und sogar eine Versklavung des Gatten zur Folge hat. [23] Eine Verschuldung und
  Versklavung kann nur umgangen werden, wenn symmetrisch geheiratet wird [24], der Brautpreis vor der Heirat
  gezahlt werden muss oder eine Mitgift zurückkommt, mit der die Schulden
  beglichen werden können (Modus C). Da die Frauen ganz von ihren Vätern
  losgekauft werden, sind Frauen bei Heiratssystemen des Modus C tendenziell
  autonomer. Indem keine Schulden oder Knechtbeziehungen
  entstehen, existiert eine kleinere Ausbeutung der ärmeren
  Bevölkerungsschichten. Im Gegensatz zum Modus B sind Klientelbeziehungen
  dadurch wichtiger als klassische Herr-Knecht-Beziehungen, was zudem auch den
  grösseren Fokus jener Gesellschaften auf den Wert der ostentativen Gabe
  erklärt. All dies verbindet Testart grundsätzlich mit einer demokratischeren
  Gesellschaftsorientierung (Testart 2005, p. 69). Indem beim Modus B Menschen durch
  Schulden versklavt werden können, wird eine indirekte ökonomischen
  Ungleichheit [25] in eine direkte
  Abhängigkeit zwischen Herr und Sklave transformiert [26]. Dass die Vermögenden nun die Möglichkeit haben, die Verschuldeten
  formal frei zu lassen, schafft eine ständige Abhängigkeit, welche die
  Vermögenden zu Herrschern macht, und sichert dem Vermögenden die ständige,
  über die Verpflichtung gegenüber einer Gemeinschaft hinausgehende Loyalität
  der verschuldeten Person. Typischerweise sind genau diese Systeme mit
  ausgeprägten Herr-Knecht-Beziehungen die Vorläufer des Despotismus und
  despotischer Staaten [27]. 2. 3. Testarts politische
  Klassifikation Als zweites zentrales
  Charakteristikum stützt Testart sich in seiner Klassifikation auf Politik.
  Was Testart unter Politik versteht, wird am besten aufgrund seiner
  Ausführungen zum Staat verstanden. Ihm zufolge braucht ein Staat nicht
  dringend ein Territorium, denn Politik bezieht sich immer auf Menschen, das
  Territorium umschreibt lediglich die Gemeinschaften eines bestimmten Gebiets,
  über die Macht ausgeübt wird. Auch Webers Definition des Staates als Struktur
  mit einzigem legitimen Gewaltmonopol weist Testart zurück. Der Staat muss
  nämlich nicht das Gewaltmonopol besitzen, sondern lediglich genug Gewalt,
  damit sich keines seiner Mitglieder ihm widersetzen kann und diese für alle
  gleichsam bindend ist. Ein wichtiges Charakteristikum des Staates ist dabei,
  dass diese Gewalt separat von der Zivilgesellschaft organisiert, exklusiv vom
  Staat kontrolliert und nur für ihn zugänglich ist. Damit dies gewährleistet
  werden kann, muss die Souveränität, also die höchste Macht des Staates,
  einzig und unteilbar sein (Testart 2005, p. 82-86). Bei nicht staatlichen
  Gesellschaften ist dies genau umgekehrt: Weil niemand eine Macht hat, die
  grösser ist, als jene aller anderen Teile der Gesellschaft, unterteilt sich
  die Gesellschaft bei Unstimmigkeiten. In segmentären Gesellschaften kann
  diese Teilung soweit fortschreiten, dass unterhalb der Macht jedes einzelnen
  Segments keine grössere übergeordnete Macht mehr existiert. Daraus folgt
  auch, dass in nicht-staatlichen Gesellschaften – von Testart auch minimale
  Organisationsformen genannt – einstimmige Entscheidungen getroffen werden
  müssen, da sonst die Gesellschaft in ihre Unterteile zerfällt (Testart 2005,
  p. 86-88). Neben Staat und Nicht-Staat gibt
  es tatsächlich aber auch noch eine Zwischenform, den sogenannten Semi-Staat.
  Typische Beispiele dafür sind Gesellschaften, die sich entlang einer
  Abstammungslinie gliedern: Sie sind zwar unterteilbar aber nur in eine endliche
  Anzahl und auf eine regelmässige Art und Weise. Zwar kennen diese
  Semi-Staaten im Gegensatz zu Staaten keine separat organisierte Gewalt,
  typischerweise gibt es aber in Semi-Staaten Mechanismen – wie z. B. ein Rat
  –, der verhindert, dass Gewalt willkürlich ausgeübt wird (Testart 2005, p.
  88-90).  Um nun die verschiedenen
  politischen Organisationsformen nicht nur ex negativo aus dem Staat heraus
  zu definieren, ist es notwendig, sich zu fragen, wer in den jeweiligen
  Organisationsformen die politische Macht trägt; während klassischerweise
  davon ausgegangen wird, dass Könige Staaten vorstehen, haben nach der
  neoevolutionären Tradition Chefs die leitenden Funktionen der übrigen
  Organisationsformen inne. Was ein Chef aus politischer Sicht genau ausmacht,
  wird jedoch nur selten definiert, lässt sich aber grundsätzlich an vier
  Elementen festmachen: Chefs haben meistens einen Titel, Funktionen und Missionen,
  Macht samt Attributen und Mitteln, mit denen sie ausgestattet sind. Während
  wir uns aus unserer heutigen, staatlich geprägten Perspektive gewohnt sind,
  dass unsere Chefs all diese Elemente in sich vereinen und eine imperative
  Gewalt ausüben, die sie vom Staat delegiert bekommen, deuten ethnografische
  Vergleiche darauf hin, dass die Chefs aller nicht-staatlichen
  Organisationsformen durch die Abwesenheit eines oder mehrerer dieser Elemente
  geprägt ist (vgl. Tab. 2) (Testart 2005, p. 91-96). Tab. 2: Beispiele
  für Chefs nicht staatlicher Organisationsformen (Testart 2005, p. 92-104) In minimalen Organisationsformen
  hat niemand die Macht, Krieg auszurufen oder Recht zu sprechen. Es handelt
  sich dabei entweder um cheflose Gesellschaften oder
  Gruppen mit Chefs ohne Macht oder ohne respektive mit minimalen Funktionen
  (vgl. Tab. 2); sie nehmen beispielsweise repräsentative
  Funktionen wahr, helfen mittellosen Gesellschaftsmitgliedern, stiften
  Frieden, haben aber keine fest definierte Aufgabe und werden aufgrund ihres
  Reichtums oder Prestiges zu Chefs (Testart 2012, p. 452). Unter den Semi-Staaten
  unterscheidet Testart drei hauptsächliche Organisationsformen: Primitive
  Demokratien [28],
  Verwandtschaftsorganisationen [29] und Alters- und
  Generationsklassensysteme [30]. Primitive Demokratien verfügen
  über eine direkte oder repräsentative Volksversammlung, die über Krieg und
  Frieden entscheidet und gegen deren Beschluss sich kein Gesellschaftsmitglied
  widersetzen kann. Mit der Organisation des Kriegsunternehmens wird dann ein
  Repräsentant beauftragt, der aber den Krieg aus seinen eigenen Mitteln
  ermöglichen muss (vgl. Tab. 2, Chef ohne Mittel). Diese
  Organisationsformen, die typischerweise mit den nordamerikanischen Iroquois in Verbindung gebracht werden, weisen zwar
  staatsähnliche Züge auf; indem sie aber die Gewalt weder separat organisieren
  – eine Wehrpflicht existiert nicht –, noch die Gefahr einer Spaltung der
  Gesellschaft ständig vorbeugen können – weshalb die Volksversammlung auch
  einstimmige Entscheidungen treffen muss – unterscheiden sie sich von
  staatlichen Konstrukten deutlich. Die Volksversammlung ist zwar souverän,
  diese Souveränität beschränkt sich aber auf negative, verbietende
  Entscheidungen – z. B. das Verbot, Krieg zu führen – und beinhaltet keine
  positiven Verpflichtungen oder eine repressive Befehlsgewalt. Verwandtschaftsorganisationen wie
  sie typischerweise in Subsahara-Afrika und Südostasien vorkommen, zeichnen
  sich einerseits durch eine gemeinschaftliche Lebensweise aus, bei der
  gemeinschaftlich gearbeitet und verwaltet wird, obwohl es eigentlich keinen
  Gemeinbesitz gibt [31], anderseits durch eine
  ausgeprägte politische und rechtliche Solidarität gegen aussen [32] sowie auch durch eine
  autoritäre Machtstruktur, welche dem Chef einer Verwandtschaftslinie
  umfassende Autorität einräumt. Diese Macht ist vergleichbar mit der
  altrömischen patria potestas
  und manifestiert sich am deutlichsten an der Gewalt der Onkel und Väter
  gegenüber ihren Neffen und Söhnen. [33] Zwei grundlegende
  strukturelle Charakteristika zeichnen diese Verwandtschaftssysteme aus: Einerseits,
  dass sich Titel und Macht hierarchisch entlang einer einzigen
  Abstammungslinie akkumulieren, andererseits, dass die Autorität auf die
  darunterliegende Verwandtschaftslinie sich verringert, umso höher man sich in
  der Verwandtschaftshierarchie befindet und je weniger direkt die
  Verwandtschaftsbeziehung ist (Hypoarchie). So ist die Macht des Vaters über
  seinen Sohn grösser als die Macht des Onkels über seinen Neffen, auch wenn
  dieser dem ganzen Verwandtschaftssystem vorsteht (s. Abb. 2).
  Dies hat zur Folge, dass Spaltungen entlang Verwandtschaftslinien sehr
  wahrscheinlich werden, sich Despotismus nur auf den unteren Stufen des
  Systems ausprägt und der Chef des Verwandtschaftssystems zur Vergrösserung
  seiner Machtbasis auf nicht verwandtschaftlichen Grundlagen (Sklaven,
  Klientelbeziehungen, Fremde) abstützen muss. 
 Abb. 2:
  Organisationsweise von Verwandtschaftssystemen. Akkumulation von Macht: Wenn
  a stirbt, wird der Vorsteher der Linie b Chef des Verwandtschaftssystems.
  Hypoarchie: Die Macht von a auf die Verwandtschaftslinie von C ist geringer
  als die Macht von C auf seine Verwandtschaftslinie Am wenigsten ausführlich werden
  von Testart die Alters- und Generationsklassensysteme behandelt, die sich
  häufig in Ostafrika finden. Sie scheinen insofern ähnlich wie primitive
  Demokratien zu funktionieren, indem sie eine Generationsversammlung haben,
  die über Krieg und Frieden entscheidet. Gleichzeitig kennen sie aber auch
  altersklassenspezifische Funktionen, die nach einer bestimmten Anzahl Jahre
  wieder abgegeben werden müssen (Tornay 2009). Auf staatliche Strukturen geht
  Testart lediglich in Form des Despotismus ein, den er vor allem in Bezug auf
  afrikanische Königreiche diskutiert. Von Despotismus spricht er, wenn eine
  einzige Person alle politische, ökonomische und/oder religiöse Macht in sich
  vereint und neben sich keinen weiteren Herrscher toleriert. Die Basis dieser
  Macht liegt klar in der Welt II; wenn es nämlich keine Landaristokratie gibt,
  durchdringt der Staat das ganze Wirtschaftssystem. Weiter ist der Despot
  immer auf die Existenz einer Gruppe von Menschen angewiesen, die ihm
  bedingungslos loyal ist und nicht mit ihm um die Herrschaft konkurriert (d. h.
  oftmals nicht näher mit ihm verwandt ist). Die Macht des Königs hat jedoch
  Grenzen, zumal keine administrative, territoriale Spezialisierung eintritt,
  sondern ähnlich wie bei einem Verwandtschaftssystem regionale Stellvertreter
  eingesetzt werden, die im ihnen zugewiesenen Gebiet umfassende fiskale, militärische und bürokratische Macht besitzen.
  Der König behält zwar die unmittelbare Befehlsgewalt über das Gebiet um seine
  Hauptstadt, das Verhältnis zwischen König und regionalen Stellvertretern ist
  jedoch gleich wie bei Verwandtschaftssystemen durch Hypoarchie geprägt und
  das ganze System dadurch anfällig für Zersplitterung (Testart 2005, p.
  114-119). 2.4. Die Klassifikation von
  Gesellschaften Ökonomisch und politisch teilt
  Testart die Gesellschaften jeweils in drei Kategorien auf; in die Welten I
  bis III, in minimale politische Organisationsweisen, Semi-Staaten und
  Staaten. Aus der Welt I sind bisher nur minimale politische
  Organisationsweisen bekannt, aus der Welt III nur Staaten. Es ergeben sich
  für Testarts Klassifikation also fünf Klassen (Testart 2005, p. 128-129): 1.    Gesellschaften
  ohne Reichtum mit minimaler Organisation, sogenannte achrematische
  Gesellschaften. 2.    Gesellschaften
  mit Reichtum aber ohne Grundbesitz mit politisch minimaler Organisation, die
  sich oft plutokratisch organisieren sind und eine intrinsische Veranlagung zu
  ostentativen Ausgaben haben.  3.    Gesellschaften
  mit Reichtum, ohne Grundbesitz aber mit einer semi-staatlichen Organisationsweise. 4.    Gesellschaften
  mit Reichtum, ohne Grundbesitz und mit einer staatlichen Organisationsform. 5.    Gesellschaften
  mit Reichtum, mit Grundbesitz und mit staatlicher Organisation. Innerhalb dieser Klassen
  unterscheidet Testart unterschiedliche Typen, welche in sich jene Elemente
  zusammenfassen, die charakteristisch für die jeweilige Gesellschaften sind
  und den Schlüssel zum sozialen Verständnis dieser Gesellschaften darstellen.
  Diese Typen können dabei in Reinform, vermischt oder zusammengesetzt vorkommen
  (Testart 2005, p. 123-128). Tab. 3: Testarts
  Klassifikationssystem 3. Megalithische
  Gesellschaften  Bereits anhand von neoevolutionären
  Klassifikationssystemen wurde in prozessualistischen
  Kreisen unter der Federführung von Colin Renfrew und Alain Gallay versucht, megalithische Gesellschaften zu
  klassifizieren (Jeunesse 2016, p. 5-7). Erst Testarts Klassifikationssystem
  vermochte der Diskussion um megalithische Gesellschaften eine neue Richtung
  zu verleihen und wurde nur kurze Zeit nach seiner Erscheinung bereits von
  Alain Gallay aufgegriffen. Gallay
  betont insbesondere die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehung in seinen Überlegungen
  zum Megalithismus. Zwar anerkennt er, dass auch in
  ostentativen Plutokratien sowie primitiven Demokratien Megalithismus
  entstehen kann und ordnet diese Gesellschaftssysteme den frühneolithischen
  westeuropäischen respektive glockenbecherzeitlichen Megalithen zu (Gallay 2007, p. 345-346); die meisten archäologischen und
  ethnologischen Beispiele bringt er jedoch mit semi-staatlichen
  Verwandtschaftssystemen in Verbindung (Gallay 2006,
  p. 45). Megalithen versteht er dabei als generellen Ausdruck von kompetitiven
  sozialen Systemen für den Erwerb und die Aufrechterhaltung von politischer
  Macht (Gallay 2017, p. 47). Besonders seine
  Aussagen über Verwandtschaftssysteme sind jedoch nicht unproblematisch und
  rühren massgeblich auch daher, dass Gallay Verwandtschaftsbeziehungen,
  die in fast allen Gesellschaften der Welt eine bedeutsame Rolle spielen, mit
  den von Testart klar definierten Verwandtschaftssystemen gleichsetzt
  (Jeunesse 2016, p. 8-9).  Obwohl Testart die megalithischen
  Gesellschaften teils widersprüchlich in seine Klassifikation einordnet
  (Jeunesse 2016, p. 9-10), gibt er klare Hinweise darauf, in welchen
  gesellschaftlichen Zusammenhängen er die neolithischen Megalithen sieht; wie
  die gesamte Ur- und Frühgeschichte Europas ordnet Testart das Neolithikum der
  Welt II zu (Boulestin 2012; Testart 2012, p.
  407-410). Im Gegensatz zur paläolithischen 'Kunst', die beispielsweise in
  Form von weiblichen Statuetten oder Höhlenmalerein
  eine diskrete, fast schon versteckte Form annimmt, hat der neolithische Megalithismus einen ostentativen Charakter: «Le sens du monumentalisme naquit avec le néolithique.» (Testart
  2012, p. 439) Während frühneolithisch megalithische Anlagen im Nahen Osten
  wichtig für die gemeinschaftliche Strukturierung des dörflichen Lebens gewesen
  zu sein scheinen und daher eher Ausdruck einer primitiv demokratischen oder
  verwandtschaftlichen politischen Organisationsform sind, waren die frühen
  megalithischen Gräber Westeuropas vermutlich nur einer kleinen Personengruppe
  zugänglich und wirken dadurch individualistischer. Als augenfällig streicht
  Testart einerseits den ikonografischen und räumlichen Bezug dieser Megalithen
  zum Wasser heraus, andererseits das Auftreten der frühen Megalithen in erst
  gerade mit der Neolithisierung in Berührung gekommenen Gebieten (Testart
  2004, p. 466-470). Testart schliesst daraus, dass es sich bei diesen um immer
  noch in mesolithischer Tradition stehende ostentative Plutokratien mit
  minimalen politischen Organisationsformen handeln könnte, die Megalithen
  daher primär Ausdruck von Reichtum einer Person oder Personengruppe sind;
  ähnlich wie für die Anfertigung eines Kanus auf den Trobriand-Inseln
  und für den elitären Häuserbau auf Melanesien dürfte dabei die Bezahlung in
  Form von Speis und Trank auf Festen zentral für die Errichtung der Megalithen
  gewesen sein (Testart 2012, p. 440-444; Testart 2016, p. 335-336). Testart
  weist dabei die These zurück, dass über den Verlauf des Neolithikums die
  Megalithen einen demokratischeren Charakter annahmen, wie die Reduktion der Megalithgrösse und die Zunahme der Anzahl von Bestatteten
  in megalithischen Monumenten suggeriert; da die materielle Voraussetzung für
  die Errichtung eines Megalithen womöglich nur die
  Ausrichtung eines Festes war, drücken die kleineren Megalithen eher den Repräsentationswillen
  von neu zu Reichtum gekommenen Personen aus. Weiter streitet Testart einen
  Zusammenhang zwischen Verwandtschaftssystemen und Megalithismus
  mit Vehemenz ab; das Beispiel der madagassischen Merina
  belege zwar die Möglichkeit des Auftretens von Megalithen in
  Verwandtschaftssystemen, nirgends scheinen diese aber selbst Ausdruck von
  verwandtschaftlicher Gesellschaftsstrukturierung zu sein, zumal sogar bei den
  Merina die Zuweisung zu einem megalithischen
  Grabmal nicht nach der Logik einer Abstammungslinie funktioniert, sondern
  viel freier nach Familiengruppen gewählt werden kann (Testart 2012, p. 474;
  Testart 2016, p. 334-335).  Einen eleganten Vorschlag für die
  Einordnung der megalithischen Gesellschaften, präsentiert Bruno Boulestin in einem unlängst erschienen Artikel (Boulestin 2016). Er propagiert darin eine Unterscheidung
  zwischen Konstruktionen, die Megalithen von mehr als 15 Tonnen Gewicht
  umfassen (Typ I), und solchen, die keine Megalithen aufweisen, die schwerer
  als 10 bis 14 Tonnen sind (Typ II). Wie Boulestin
  beobachtet, kommen erstere vor allem in Regionen vor, welche in überwiegender
  Mehrheit mit ostentativen Plutokratien oder Staaten in Verbindung gebracht
  werden. Dies ergibt insofern Sinn, als dass er als Voraussetzung für die Akquirierung
  von genügend Arbeitskraft für die Errichtung derart grosser Megalithen
  ostentative rituelle Feste (im Falle der ostentativen Plutokratien) oder
  direkte politische Macht (im Falle der Staaten) annimmt. Eine Ausnahme
  stellen für Boulestin die Merina
  auf Madagaskar dar, die sowohl typische asiatische ostentativ-plutokratische
  Charakteristika wie Reichtum als zentrales Prestige- und Machtmittel, als
  auch typisch afrikanische Elemente der Verwandtschaftssysteme in sich
  vereinen. Die Megalithen des Typs II finden sich dahingegen in fast allen
  Gebieten der Welt und können bereits mit einigen dutzend
  Personen transportiert und errichtet worden sein, weshalb eine Aussage über
  die dahinterliegende Motivation und soziale Organisation auf Basis der
  Megalithen nicht möglich ist (Boulestin 2016, p.
  83-89). Wie die angeführten Beispiel
  zeigen, ist eine klare, widerspruchslose Einteilung der megalithischen
  Gesellschaften in eine von Testarts Klassen nicht möglich. Selbst Testarts
  eigene Einordnung vermag das Phänomen nicht in seiner ganzen Bandbreite zu
  beschreiben und erweist sich im Detail – wie beispielsweise in Bezug auf die Merina – als nicht ohne eine gewisse innere
  Widersprüchlichkeit. Erklärungen für die Entstehung von Megalithismus
  jedoch wieder hauptsächlich in kulturellen Traditionen zu suchen und
  gesellschaftlich auf scheinbar fast universell gültige Aspekte wie
  Monumentalitätswille zu beschränken, wie dies beispielsweise Christian
  Jeunesse vorschlägt (Jeunesse 2016, p. 14), scheint indes zu kurz gegriffen;
  dies würde die massgebliche gesellschaftliche Komponente – die das Phänomen
  zweifellos hat – nahezu unberücksichtigt lassen.  Die Stärke von Testarts
  Klassifikationssystem besteht gerade darin, das systematische Nachdenken und
  Sprechen über Gesellschaften zu ermöglichen. So stellt es gewissermassen
  einen ethnologisch fundierten Rahmen dar, in dem man sich gesellschaftliche
  Erscheinungsformen in ihrer ganzen Vielfalt überhaupt vorstellen kann. Gerade
  die dargelegten Beispiele beweisen dies deutlich; es wäre wohl schwierig,
  sich jenseits von Alain Testarts Klassifikation einen derart breit
  abgestützten und geordneten wissenschaftlichen Diskurs vorzustellen, der
  nicht bereits an begrifflichen Unstimmigkeiten scheitern würde. Testarts
  Klassifikationssystem hat daher auch in Bezug auf die Frage nach
  megalithischen Gesellschaften eine klare Berechtigung. Im Weiteren ist es
  nicht weiter erstaunlich, dass die Anwendung von Testarts Klassifikation im Detail
  nicht ohne innere Widersprüche bleibt; sowohl in Bezug auf Gesellschaft, als
  auch in Bezug auf Megalithismus weisen die
  untersuchten Phänomene einen derart hohen Grad an Vielfalt und Komplexität
  auf, dass ein einfaches Klassifikationssystem zwangsläufig zu kurz greifen
  muss, auch wenn es im Grossen und Ganzen richtig bleibt. Was vermag Testarts
  Klassifikation also zur Diskussion über den neolithischen Megalithismus
  beizutragen? Wie die paraphrasierten Autoren übereinstimmend ausführen,
  scheint es wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen frühem Megalithismus, einer plutokratischen Gesellschaftsordnung
  und ostentativen Praktiken besteht. Gerade hier könnte sich eine Verbindung
  mit dem deutschsprachigen Forschungsdiskurs als besonders fruchtbar erweisen;
  im deutschsprachigen Raum häufig aufgegriffene Konzepte wie Monumentalisierung der Landschaft (Vgl.
  Hinz et al. 2019) oder Assmanns kulturelles Gedächtnis (Vgl. Furholt und Müller 2011; Wunderlich 2019) scheinen in
  keinem prinzipiellen Widerspruch zu Testarts gesellschaftlichen
  Klassifizierung zu stehen und tragen in sich womöglich das Potenzial, eine
  bedeutende kulturelle respektive sozialgeografische Perspektive zum weiteren
  Verständnis des megalithischen Phänomens beizusteuern.  Boulestin B. (2014) 'Une lecture de
  “Avant l’histoire”', L’Homme, 212, p. 37-55. Boulestin B. (2016) 'Qu’est-ce que le
  mégalithisme ?' in Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin
  B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 57-98. Furholt M., Müller J. (2011), 'The
  earliest monuments in Europe – architecture and social structures (5000 –
  3000 BC)' in Furholt M., Lüth
  F., Müller J. (eds.) Megaliths and Identities: Early Monuments and
  Neolithic Societies from the Atlantic to the Baltic. Frühe Monumentalität und soziale
  Differenzierung 1. Bonn: Habelt, p. 15-34. Gallay A. (2006), Les Socitétés Mégalithiques. Pouvoir des hommes, mémoire des morts. Collection Le savoir suisse 37. Lausanne: Presses polytechniques et universitaires
  romandes. Gallay A. (2007), 'Cistes de type Chamblandes:
  15 ans recherches, quels progrès?' in Moinat P.,
  Chambon S. (eds.), Les cistes de Chamblandes et la place des coffres dans les pratiques
  funéraires du Néolithique moyen occidental. Actes du colloque de
  Lausanne, 12 et 13 mai 2006. Cahiers d'archéologie romande 110. Lausanne,
  Paris: Cahiers d'archéologie romande. Gallay A. (2016), 'Quelles interogations pour les études mégalithiques ?' in
  Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes vivants et passés:
  Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 19-56. Hinz M., Müller J., Wunderlich M.
  (2019),
  'The Monumentalism of
  European Landscapes' in Müller J., Hinz M.,
  Wunderlich M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality
  and Social Differentation
  in Neolithic Europe. Frühe Monumentalität und
  soziale Differenzierung 18. Bonn: Habelt, p. 21-24. Jeunesse C. (2016), 'De l’Île de
  Pâques aux mégalithes du Morbihan. Un demi-siècle de confrontation entre
  ethnologie et archéologie autour du mégalithisme' in Jeunesse C., Le Roux P.,
  Boulestin B. (eds.), Mégalithismes
  vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress Archaeology, p. 3-18. Jeunesse C., Le Roux P., Boulestin B. (eds.), Mégalithismes
  vivants et passés: Approches croisées. Oxford: Archaeopress
  Archaeology.  Müller J., Hinz M., Wunderlich M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early
  Monumentality and Social Differentation in
  Neolithic Europe. Frühe Monumentalität
  und soziale Differenzierung
  18. Bonn: Habelt.  Service E. R. (1965), Primitive
  Social Organization: an Evolutionary Perspective. New
  York: Random House. Steward J. H. (1955), Theory
  of Culture Change. The Methodology of Multilinear Evolution. Champaign: University of Illinois Press. Testart A. (2005), Elément de
  classification des sociétés. Paris: Editions
  Errance. Testart A. (2012), Avant
  l'histoire : l'évolution des sociétés, de Lascaux à Carnac. Paris: Gallimard. Testart A. (2014), 'Anthropology of
  the Megalith-Errecting Societies' in Besse M. (ed.) Around the Petit-Chasseur Site in Sion
  (Valais, Switzerland) and New Approaches to the Bell Beaker Culture.
  Proceedings of the International Conference Held at Sion (Switzerland)
  October 27th – 30th, 2011. Oxford: Archaeopress Archaeology, p.
  331-336. Tornay P. (2005), 'Alain Testart, Éléments de classification des sociétés. Editions Errance, 2005,
  156 pages', Journal des africanistes, 79, p.
  387-400.  Wunderlich M. (2019), 'Social
  Implications of Megalithic Construction – A Case Study from Nagaland and
  Northern Germany' in Müller J., Hinz M., Wunderlich
  M. (eds.), Megaliths – Societies – Landscapes. Early Monumentality and Social Differentation in Neolithic
  Europe.
  Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung 18. Bonn: Habelt, p.
  1133-1152. Abb. 1: Hergestellt von T. Geitlinger,
  nach Testart 2005, p. 46. Abb. 2: Nach Testart 2005, p. 111.   
 [1] Megalithen (von μέγας
  = gross und λίθος
  = Stein) bezeichnen aus architektonischer Sicht aus grossen,
  teils aus weiten Entfernungen hertransportierten Steinen errichtete Monumente
  (insb. Dolmen und Menhire), die ohne maschinelle Hilfe errichtet wurden (Gallay 2006, p. 10-11).   [2] Für Testart ist die Unterscheidung
  zwischen Gesellschaft und Kultur entscheidend: Gesellschaft ist keine
  menschliche Gemeinschaft, sondern stellt lediglich eine Gesamtheit von
  Institutionen und Strukturen dar, mit der sich speziell die Soziologie
  beschäftigt. Kultur umfasst im Gegensatz dazu die Art und Weise, wie diese
  Strukturen in der Gesellschaft (z. B. in Form von Sprache oder Tradition)
  verwurzelt sind und sinngebend symbolisch wiedergegeben werden (Testart 2005,
  p. 122-123).  [3] Oder auf Basis dessen, was wir als
  Natur der Dinge wahrnehmen (Testart 2005, p. 9). [4] Man würde eine Echse und eine Maus
  auch nicht in die gleiche biologische Klasse einordnen, nur weil sie ungefähr
  gleich gross sind (Testart 2005, p. 13).   [5] Gemäss Testart jene Aspekte sozialer Verhältnisse, die eine gewisse Materialität implizieren und durch Nutzgüter realisiert werden (Testart 2005, p. 25).   [6] Gemäss Testart die Macht der Macht, die Macht des Befehlens und des Nicht-Befohlen-Werdens (Testart 2005, p. 81).   [7]
  Testart spricht in diesem Zusammenhang von propriété
  fundière oder fondière
  wie von fond (Boden) oder Latifundium (Grundstück)
  (Testart 2005, p. 27)  . [8] Aristocratie foncière (Testart
  2005, p. 26). [9] Rente foncière (Testart
  2005, p. 26).   [10]Dorfgemeinschaften, Abstammungsgemeinschaften, Könige o. ä. (Testart 2005, p. 27).   [11] Testart umschreibt dies mit dem Begriff 'Usufondée' (Testart 2012, p. 408).   [12] Sklaven gehören nicht zur Gemeinschaft, haben kein Recht auf Land, Titel, die Resultate ihrer Arbeit und Familie. Alle Rechte der Sklaven übernehmen ihre Besitzer (Testart 2005, p. 28).   [13] Nach Testarts Terminologie: Achrematische Gesellschaften (Testart 2005, p. 26).   [14] Nach Testart: Prix de la fiancée. Die Frau wird dabei nicht gekauft, sondern nur die Rechte an ihr (Testart 2005, p. 30). [15] Nach Testart: Prix du sang resp. Wergeld. Kompensation an die Eltern, falls eines ihrer Kinder umgebracht wird (Testart 2005, p. 30f.).   [16]
  Nacht Testart: Amendes. Für Ehebruch, Verführung,
  Tabubruch, Inzest usw. (Testart 2005, p. 31).   [17] Nach Testart: Ploutocraties
  ostentatoires (Testart 2005, p. 46).   [18] Nach Testart: Dons et
  distributions (Testart 2005, p. 49).   [19] Testart spricht in diesem Zusammenhang von den melanesischen 'rubbish men' als besonders drastisches Beispiel für die geringe soziale Wertschätzung der ärmeren Schicht (Testart 2005, p. 47f.).   [20] Nach Testart:
  Le dot (Testart 2005, p. 62).   [21] B
  wie bride price oder bridewealth (Testart 2005, p.
  62).   [22] C wie combinaison (Testart 2005, p. 62).   [23] Es scheint dabei eine klare Korrelation zwischen den Gesellschaften zu geben, die Schuldsklaverei zulassen, und der Heiratspraxis des Modus B (Testart 2005, p. 64-66).   [24] Wenn z. B. der Schwager einer Person dessen Schwester heiratet (Testart 2005, p. 69).   [25] Simples inégalités (Testart
  2005, p. 66)  [26] Relations en dépendances entre maître et ésclaves (Testart 2005, p. 66):   [27]
  So haben die Yurok Nordkaliforniens beispielsweise die wenig beneidenswerte
  soziale Kategorie der "Halbmänner" erfunden, d.h. jene Männer, die
  nur die Hälfte des Brautpreises zahlen konnten und dauerhaft an das Haus und
  die Arbeit ihres Schwiegervaters gebunden sind. Bei den Nupe
  in Nigeria war es üblich, jüngere Söhne oder sich selbst zu verpfänden, um
  die Heiratsentschädigung des ältesten Sohnes zu erhalten. (Testart 2005, p. 62-63).   [28] Nach Testart: Démocratie
  primitive (Testart 2005, p. 106-108).   [29] Nach Testart: Organisation
  lignagère (Testart 2005, p. 109-113).   [30] Nach Testart: Classes d'âge et
  classes générationnelles (Testart 2005, p. 113).   [31] Es ist immer klar, wer was besitzt, und wer was vererbt bekommt (Testart 2005, p. 109).   [32] Z. b. in Bezug auf die Blutrachte (Testart 2005, p. 109).   [33] Im Falle des familiären Despotismus: Will ein Onkel seinen Neffen aus finanziellen Gründen verkaufen, kann er das (Testart 2005, p. 110).  | 
 
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